Da es in der unmittelbaren Nachbarschaft weder einen Bäcker noch andere Lebensmittelhändler gab, ging sie auf der White Horse Lane nach Norden, bis sie die viel befahrene und vor Läden wimmelnde Mile End Road erreicht hatte. Doch als sie schließlich in der Hauptstraße stand, hatte sie vergessen, weshalb sie eigentlich hergekommen war. Sie schaute sich verwundert um, als wäre sie just in diesem Moment aus einem Traum erwacht. Die vielen Davidsterne an den Mauern oder über schmiedeeisernen Eingängen ringsum erstaunten sie. Links eine Synagoge, rechts ein deutsch-jüdisches Krankenhaus, gegenüber ein jüdischer Friedhof. Und überall Schilder mit deutschen Worten oder unleserlichen Schriftzeichen.
Ein Omnibus näherte sich von Osten. Jedenfalls glaubte sie, dass es Osten war. Auf einem Schild an der Seite las sie: »Fenchurch Street Station«. Unwillkürlich fasste sie sich an die Brust. Dort, in der Innentasche ihres Mantels, hatte sie die beiden Fotos verstaut, die Visitenkarte von Maureen und das Kabinettporträt ihrer Mutter. Dann griff sie in die linke Außentasche und befingerte die Münzen, die Maureen ihr gegeben hatte. Zu welchem Zweck eigentlich? Ohne weiter darüber nachzudenken, bestieg sie kurzentschlossen den Bus, zahlte einen Penny und fuhr in Richtung City.
2
Als Celia vor zwei Tagen mit Adam an dem Fotostudio in der Fenchurch Street vorbeigefahren war, hatte sie den Namen Newcombe nirgendwo an der Fassade oder in den Schaufenstern erkennen können. Und auch jetzt, da sie direkt vor dem Eckhaus an der Cullum Street stand und zu den Schildern und Reklametafeln emporblickte, stellte sie ernüchtert fest, dass lediglich der Name Taylor darauf vermerkt war. Die Enttäuschung steigerte sich noch, als sie im Laden von einem Mitarbeiter im blauen Kittel erfuhr, dass es keinen C. T. Newcombe mehr in der Fenchurch Street gab und die Brüder Taylor bereits vor vielen Jahren das Geschäft übernommen hatten.
»Und die alten Glasscheiben?«, fragte Celia. »Wo die Bilder drauf sind?«
»Negativplatten«, verbesserte der Mann.
»Gibt’s die noch?«
»Kommt ganz darauf an.«
Celia zeigte dem Angestellten das Foto ihrer Mutter mit dem Stempel auf der Rückseite und fragte, ob er ihr weitere Auskünfte darüber geben könne. Vor allem interessierte es Celia, wann das Bild aufgenommen worden war und wer das Foto in Auftrag gegeben oder bezahlt hatte.
»Wollen Sie einen Abzug, Miss?«, fragte der Mann.
»Nein, eigentlich nicht.«
»Sie wollen nur eine Auskunft über das Foto?«, vergewisserte sich der Angestellte und runzelte missbilligend die Stirn. »Keine weiteren Abzüge?«
»So ist es.«
Der Mann schüttelte unwillkürlich den Kopf, reichte Celia aber ein Blatt Papier und bat sie, die auf der Rückseite vermerkte Negativnummer und ihre Adresse aufzuschreiben. Falls er etwas herausfinde, werde er sie unterrichten.
Celia freute sich bereits über die unerwartete Hilfsbereitschaft des Angestellten, doch als sie den ungeduldigen Ausdruck im Gesicht des Mannes sah, begriff sie, dass er sie nur vom Hals haben wollte. Dennoch schrieb sie das Gewünschte auf das Papier, legte es auf die Theke und sagte: »Ich komme in den nächsten Tagen wieder.«
»Lassen Sie sich ruhig Zeit, Miss«, antwortete er, machte ein finsteres Gesicht und verstaute den Zettel in einer hölzernen Kiste. »Wir können nichts versprechen. Es ist ein sehr altes Foto. Machen Sie sich also nicht zu viel Hoffnung.«
Celia nickte, bedankte sich und verließ den Laden mit dem unguten Gefühl, von dieser Seite nichts weiter über das Foto oder ihre Mutter in Erfahrung zu bringen. Eine weitere Sackgasse!
Als sie wieder auf der Straße stand und in Richtung Bahnhof blickte, fiel ihr siedend heiß ein, weshalb sie eigentlich die Wohnung in der White Horse Lane verlassen hatte. Die Einkäufe! Ein Schreck fuhr ihr in die Glieder, weil sie einen Penny für nichts und wieder nichts vergeudet hatte. Und wertvolle Zeit obendrein. Um drei sollte sie mit dem Schminkkoffer und der Kostümtasche am People’s Palace sein. Sie zitterte plötzlich am ganzen Körper, und erst als sie keuchend am Bahnhof ankam und die Leute erschrocken vor ihr zurückwichen, begriff sie, dass sie die ganze Strecke von der Cullum Street gerannt war. Dabei war es erst kurz vor Mittag, wie sie auf der großen Uhr über dem Bahnhofsportal ablas. Die Tränen liefen ihr über die Wangen, zugleich wusste sie nicht recht, warum sie weinte. Reiß dich zusammen, Celia!, schalt sie sich. Es war ja nichts Schlimmes passiert. Den Penny würde sie Maureen ersetzen oder dadurch einsparen, dass sie heute nichts mehr aß, und wenn sie den weiten Rückweg nach Mile End zu Fuß unternahm, würde sie kein weiteres Geld verplempern. Ja, so wollte sie es machen. Dann musste sie plötzlich laut lachen, weil sie vergessen hatte, ihrer Mutter die beiden Pennys auf die Augen zu legen. Damals in Brightlingsea. Als Mary Brooks mit einem seltsamen Fluch auf den Lippen gestorben war.
»Dein Vater ist ein verdammter Teufel! Hüte dich vor ihm, Celia!«
Während sie am Bahnhof Fenchurch Street vorbeilief, immer weiter in Richtung Osten, ohne auf ihre Schritte oder die Umgebung zu achten, schämte sie sich für ihr törichtes Benehmen. Sie stolperte beinahe über ihre eigenen Füße, fand Halt an einer Gaslaterne, die seltsam gurgelnde Geräusche von sich gab, und musste mit einem Mal an das Röcheln ihrer Mutter auf dem Sterbebett denken. Mit einem Schrecken fiel ihr wieder ein, dass sich derzeit niemand um Mutters Grab auf dem alten Friedhof von All Saints kümmerte. Allerheiligen. Allesamt Heilige! Eine verwitterte kleine Kirche auf dem grünen Hügel, eine gute Meile vor dem Ort, umgeben von Grabsteinen, Statuen und Kreuzen, die aussahen, als wollten sie das uralte Gemäuer wie feindliche Krieger belagern. Mutter hatte den Blick von dort oben geliebt, hinunter auf die breite Mündung des Colne und bei gutem Wetter bis nach Mersea Island. Dort auf dem Hügel hatte sie beerdigt werden wollen, im Schatten von All Saints, nicht auf dem kargen Armenfriedhof unten im Ort. Wegen der schönen Aussicht und weil sie neben dem kleinen George hatte liegen wollen, der auch dort begraben war. Celias ältester Bruder, der viel zu früh auf die Welt gekommen war und seine unzeitige Geburt nur um wenige Stunden überlebt hatte. George. Über den im Hause Brooks nie gesprochen worden war. Weil die Mutter immer zu weinen anfing und der Vater tobte, wenn sein Name genannt wurde. Man solle die Vergangenheit ruhen lassen, wie er meinte. Die Lebenden seien wichtiger als die Toten. Und dann war er meist in die Kneipe gegangen und hatte sich betrunken. Damit die Vergangenheit endlich ruhte.
Kurz nach dem Verschwinden des Vaters hatte die Mutter die Putzstelle im Pfarrhaus auf dem Hügel angetreten, obwohl der Pfarrer nur einen Hungerlohn zahlte. Celia hatte oft vermutet, die Mutter sei nur ins Pfarrhaus gegangen, um ihrem Erstgeborenen nahe zu sein. Ihrem Erstgestorbenen. Der zu früh geboren und später zu einem Unausgesprochenen geworden war. George. Wie der Name eines Inns in Southwark. Auf dem Grab nur ein einfaches Holzkreuz mit seinem notgetauften Namen und einer Jahreszahclass="underline" 1868. Das Jahr, in dem ihre Eltern geheiratet hatten.
»Na, Kindchen, mal ’nen Blick riskieren?«, wurde Celia aus ihren wirren Gedanken gerissen. Ein älterer Mann im braun karierten Havelock stellte sich ihr in den Weg und deutete mit gichtigen Fingern zu einer schmalen Gasse, die in nördlicher Richtung von der Hauptstraße abging. »Mitre Street«, stand auf einem Schild am Eckhaus. »Willst du was Interessantes sehen?«
Celia wich einen Schritt zurück, doch der Mann kam abermals näher.
»Für ’nen Penny zeig ich dir, wo’s gewesen ist«, sagte er und hob bedeutsam die Augenbrauen. »Wo er sie zerstückelt hat. Wo man sie gefunden hat.«
»Wen gefunden?«
»Das letzte Opfer vom Ripper«, sagte der Mann und fasste Celia am Ärmel. »Nur ’n Penny, dann zeig ich’s dir. Auf dem Bordstein war’s. Gleich um die Ecke. Am Mitre Square.« Er grinste und bleckte die wenigen Zähne, die ihm im Mund verblieben waren. »Man kann die Blutflecken noch erkennen.«