Celia riss sich los, stieß den Mann von sich und rannte davon, so schnell sie konnte. Doch als sie sich nach einigen Sekunden umschaute, erkannte sie, dass der Mann ihr gar nicht gefolgt war, sondern bereits auf den nächsten Passanten einredete und mit seiner dürren Hand zur Mitre Street wies.
Eine plötzliche Übelkeit stieg in ihr hoch, und vermutlich musste sie sich nur deshalb nicht übergeben, weil sie heute noch gar nichts gegessen hatte. Nichts essen, nur laufen, so hatte sie es sich vorgenommen. Für ’nen Penny. Immerzu nach Osten. Schnurgerade war die Straße. Erst Aldgate High Street, dann Whitechapel High Street, dann Whitechapel Road, dann Mile End Road. Eine Straße, vier Namen.
Plötzlich die Brick Lane auf der linken Seite. Noch so ein seltsamer Name. Backsteingasse. Als wär’s was Besonderes. Dabei war doch fast alles hier aus Backstein. Bevor Celia wusste, was sie tat, war sie in die schmale Straße abgebogen und hielt nach einem Buchhändler Ausschau. Weil Heather die Seite herausgerissen hatte. Mitgehen lassen. Und weil doch irgendwo der Rest sein musste. Von der Zeitung.
Celia schwitzte. Dabei war es kalt und feucht. Und ihr Mantel fadenscheinig und abgewetzt. Doch die Hitze wollte nicht aufhören. Sie kam von innen. Als hätte sie Alkohol getrunken. Das hatte sie heute schon einmal gedacht. Richtig, die Natronlauge. Und der Chlorgestank. Wie vergiftet.
Dann stand sie vor dem Laden und schaute durch das schmutzige Schaufenster. Sie wusste nicht, ob es der richtige war oder ob es noch weitere Buchläden in der Brick Lane gab, doch das interessierte sie nicht. Sie betrat das Geschäft und schaute sich fasziniert um. Der ganze Raum war voller Regale, die wiederum über und über mit Büchern, Folianten und losen Blättern gefüllt waren. Wie ein Irrgarten aus Papier.
»Kann ich helfen, Miss?«, fragte der Buchhändler, ein alter Mann mit einer winzigen Brille, die ihm beinahe von der Nase fiel. Er lächelte freundlich und fragte: »Alles in Ordnung, Miss? Sie sehen blass aus.«
»Illustrated London News«, sagte Celia und ließ sich auf einen Stuhl sinken, der neben einem mit Büchern überladenen Tisch stand.
»Sehr gern«, sagte der Händler, griff in ein Regal hinter sich, fischte eine Zeitung heraus und sagte: »Macht Sixpence.«
»Nein, entschuldigen Sie«, stammelte Celia, »ich brauche die vom 20. September 1884.« Und als wäre das eine wichtige Information, setzte sie hinzu: »Die Samstagsausgabe.«
»1884?«, wunderte sich der Buchhändler. »Alte Zeitungen verkaufen wir nicht. Jedenfalls nicht einzeln, sondern nur in Sammelbänden. Wenn sie denn überhaupt vorrätig sind.«
»Ich will die Zeitung nicht kaufen, Sir, ich möchte nur …«
»Lesen?« Der Mann seufzte tief. »Dies ist keine Bibliothek, junge Frau.«
»Tut mir leid«, sagte Celia und wollte sich erheben.
Der Buchhändler zuckte mit den Achseln und schüttelte nachsichtig den Kopf. »Bleiben Sie!« Dann verschwand er in einem angrenzenden Raum und kam kurz darauf mit einem Glas Wasser zurück. »Trinken Sie, Miss!«, sagte er, stellte das Glas auf den Tisch und machte sich auf die Suche. »1884, sagten Sie?«
Celia nickte und trank das Glas in einem Zug leer. Gern hätte sie nach mehr gefragt, doch sie traute sich nicht. Sie wollte nicht ungezogen erscheinen. Mutter hatte immer gesagt: »Kinder sollen gesehen, aber nicht gehört werden.« Und der alte Mann sah das bestimmt genauso. Dabei war sie gar kein Kind mehr.
»Sie haben Glück, Miss!«, rief der Buchhändler und legte ein in Leder gebundenes, großformatiges Buch auf den Tisch. »Den Jahrgang ’84 haben wir da. Dann wollen wir mal sehen. 20. September.« Er blätterte in dem Folianten, gab dabei schnaufende Geräusche von sich und fragte: »Suchen Sie etwas Bestimmtes in der Zeitung?«
»Mignonette«, sagte Celia.
»Mignonette?«, fragte der Buchhändler. »Ich verstehe nicht.«
»Der Schiffbruch. Die Kannibalen des Meeres.« Sie war seltsamerweise nicht mehr in der Lage, in ganzen Sätzen zu reden.
»Oh, ja, ich erinnere mich«, sagte der Mann nickend. »Der Prozess hat damals für einige Schlagzeilen gesorgt. War in allen Zeitungen zu lesen. Kommt ja nicht alle Tage vor, dass brave Seeleute sich gegenseitig aufessen. Na, wollen mal schauen.« Er hatte die entsprechende Stelle in dem Buch gefunden und rief verwundert: »Oh nein, zerrissen! Die erste Seite fehlt. Die hat jemand herausgerissen. Ausgerechnet! Das kann ich mir gar nicht erklären.«
»Macht nichts«, sagte Celia, stand auf und schaute dem Buchhändler über die Schulter, ohne jedoch irgendetwas entziffern zu können. Alles drehte sich vor ihren Augen. Die Buchstaben tanzten umher. »Steht sonst noch was drin?«
»Über den Schiffbruch oder den Prozess?«, fragte der Buchhändler, blätterte weiter, überflog die nächsten Seiten und sagte: »Hier ist ein Artikel über den Prozess vor dem Friedensgericht in Falmouth. Das ist in Cornwall, glaube ich. Vermutlich wurden die Männer nach ihrer Rettung dorthin gebracht. Aber es gab offenbar keinen Richterspruch. Wegen der Schwere der Vorwürfe wurde das Verfahren an das Schwurgericht in Exeter überwiesen.«
»Exeter?«, wunderte sich Celia. Sie versuchte, sich zu erinnern, was in dem Artikel über das Todesurteil gestanden hatte. War dort nicht von einem Londoner Gericht die Rede gewesen? Von diesem Lord Sowieso? Sie hatte seinen Namen vergessen. Und den Namen des Gerichts.
»Es gab mehrere Prozesse gegen die Seemänner, vor verschiedenen Gerichten, wenn ich mich recht entsinne«, meinte der Buchhändler grübelnd und rückte sich die Brille zurecht. »Erst in Cornwall, dann in Exeter und schließlich in London. Dort wurden die Männer zum Tode verurteilt.«
»Begnadigt«, wisperte Celia.
»Ja, später.« Der Mann nickte. Die Brille wippte lustig auf seiner Nase.
»Brooks?«, fragte Celia und ärgerte sich, dass ihr die anderen Worte ihrer Frage einfach nicht über die Lippen kommen wollten. Deshalb deutete sie auf die aufgeschlagene Zeitung und wiederholte: »Ned Brooks?«
Der alte Mann überflog den Text erneut, murmelte vor sich hin und sagte dann laut: »Hier ist von einem Edmund Brooks die Rede. Meinen Sie den?«
Celia nickte.
Der Mann las leise und fasste anschließend das Gelesene zusammen: »Die Anklage gegen Brooks wurde fallengelassen, weil er nachweislich nicht an der Ermordung des Kabinenjungen beteiligt war und sich zuvor mehrfach gegen die Tat ausgesprochen hatte. Auch wenn er anschließend vom Blut des Jungen getrunken und sein Fleisch gegessen hat. Wie die anderen beiden Seeleute auch. Trotzdem wurde die Beweisaufnahme gegen Brooks nicht fortgesetzt und er stattdessen als Zeuge der Krone vernommen.«
»Zeuge der Krone?«
»Er hat gegen die anderen ausgesagt. Als Zeuge der Anklage.«
»Judas!«, entfuhr es Celia. Jetzt verstand sie die Worte des alten Seebären in Southampton. Ein verdammter Judas, wenn du mich fragst! Ein feiger Verräter. Nicht, weil er ein Kannibale war. Nicht, weil er einen unschuldigen Schiffsjungen gegessen hat, um sein eigenes Leben zu retten. Nein! Weil er seine eigenen Gefährten ans Messer geliefert hat, um selbst freizukommen. Zeuge der Krone. Wohlklingende Worte für eine hässliche Angelegenheit. Die Aussage ihres Vaters hatte den anderen beiden Seemännern das Todesurteil beschert und sie um ein Haar an den Galgen gebracht. Und laut wiederholte sie: »Ein feiger Verräter!«
»So harsch würde ich es nicht ausdrücken«, sagte der Buchhändler und schien sich über Celias plötzlichen Eifer zu wundern. »Schließlich haben der Kapitän und der Maat die Tat vor Gericht gar nicht geleugnet, wie es hier heißt. Sie haben alles ausführlich und wahrheitsgemäß geschildert und waren offensichtlich davon überzeugt, dass sie rechtens gehandelt hatten. Muss für die Männer ein Schock gewesen sein, als sie später zum Tode verurteilt wurden.«