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»Das verstehe ich nicht«, sagte Celia. »Warum …?« Sie konnte ihre Frage nicht in Worte fassen.

»Warum die Anklage einen Zeugen brauchte, wenn es ein Geständnis gab?«, half der Buchhändler und hob die Achseln. »Um ein Exempel zu statuieren. Es ging der Krone allein darum, dem Brauch des Meeres Einhalt zu gebieten.«

Celia schaute ihn nur fragend an.

»Kannibalismus nach einem Schiffbruch«, erklärte der Mann. »Ein ungeschriebenes Gesetz der Seefahrt. Deswegen mussten die Seeleute verurteilt werden. Als warnendes Exempel. Und zwei Männer nur aufgrund ihrer eigenen Aussage hinzurichten, wäre vermutlich für einen Präzedenzfall nicht ausreichend gewesen. Außerdem hätten sie ja bei einer späteren Verhandlung einfach schweigen können, das dürfen die Angeklagten nämlich, und dann wäre der Prozess hinfällig gewesen. Deshalb brauchten sie einen unbeteiligten Zeugen.«

»Unbeteiligt?«, rief Celia aufgebracht. »Vater war nicht unbeteiligt.«

»Vater?«, fragte der alte Mann irritiert.

»Mr. Brooks.« So hatte die Mutter ihren Mann immer genannt. Nie Ned. Nie Vater. Nur Mr. Brooks. Celia dachte an die Erleichterung ihrer Mutter, als der Walfänger Hutchinson die Nachricht von der Begnadigung der Kannibalen überbracht hatte. In der Nacht vor dem ersten Austernfang ihrer Brüder.

Ein lautes Klopfen an der Schaufensterscheibe ließ sie heftig zusammenfahren. Auch der Buchhändler erschrak und klappte wie automatisch den Folianten zu. Als Celia nach draußen blickte, schaute sie in das grinsende Gesicht von Heather. Die das Titelblatt der Zeitung herausgerissen hatte. »Bin ja nicht aus der Welt«, hatte sie zum Abschied gesagt. Und: »Man sieht sich.«

Celia ließ den verdutzten Buchhändler grußlos stehen, rannte hinaus auf die Straße und warf sich der Freundin in die Arme.

»Sachte, sachte«, lachte Heather. »Kein Grund, gleich vor Freude zu heulen.«

»Heul ja gar nicht«, rief Celia und wischte sich die Tränen aus den Augen.

Heather schaute sie erschrocken an, schüttelte leicht den Kopf, wies zu dem Buchladen und sagte: »Zwei Dumme, ein Gedanke. Ich wollte auch noch mal schauen, ob ich mehr über die Kannibalen rauskriege. Hast du gefunden, was du wissen wolltest?«

»Ich hab gefunden, was ich nicht wissen wollte«, sagte Celia und hakte sich bei ihrer Freundin unter. Mit dem linken Arm. Weil der rechte so höllisch weh tat.

3

»Auf wen warten wir?«

»Michael.«

»Dein neuer Freund?«

»Er hatte Frühschicht am Hafen und kommt gleich nach Hause.«

»Aha. Und warum warten wir hier?«

»Weil ich keinen Schlüssel für die Wohnung hab.«

»Keinen Schlüssel?«

»Ja.«

»Aber du wohnst doch bei ihm.«

»Und?«

»Warum hast du keinen Schlüssel?«

»Mit dem Schlüssel ist Michael eigen. Den rückt er nicht raus.«

»Aha.«

Sie saßen im Britannia Pub, an der Ecke zur Dorset Street, und schauten durchs Fenster auf die Straße, wo der stürmische Wind Papier und Unrat über das Pflaster fegte. Gegenüber lag der Friedhof von Christ Church. Wo Adam Bedfords Frau und Sohn begraben lagen. In die Herrlichkeit befördert. Heather hatte zwei Helle bestellt, obwohl Celia nichts hatte trinken wollen. Wegen des verlorenen Pennys und weil ihr dauernd die Galle hochstieg. Doch Heather hatte darauf bestanden und wollte sie einladen. Wegen dem unerwarteten Wiedersehen, wie sie meinte. Dabei hatten sie sich erst gestern im Frauenasyl voneinander verabschiedet.

»Und?«, fragte Heather, als der Wirt das Bier auf den Tisch stellte und die Münzen einsteckte. »Wie läuft’s so? Wo drückt der Schuh? Du siehst aus wie ’n Gespenst. Ganz weiß und so.«

»Vater wurde freigesprochen«, sagte Celia.

»Ist doch gut, oder?«, fragte Heather und wollte mit ihr anstoßen. »Also ist er kein Kannibale?«

»Doch«, sagte Celia. »Und schlimmer als das.«

»Versteh ich nicht.«

»Ich auch nicht.«

Sie tranken, und beinahe im selben Augenblick bereute Celia es. Die Magensäure stieg in ihr hoch, ihr Bauch verkrampfte sich. Um ein Haar hätte sie Heather das Bier ins Gesicht gespuckt.

»Bist du sicher, dass alles in Ordnung ist?«, fragte Heather besorgt.

»Ja«, log Celia. »Hab wenig geschlafen.«

»Haben die Weiber wieder geschnarcht?«

Jetzt wäre der Moment gewesen, um Heather zu beichten, dass sie nicht mehr im Asyl, sondern bei Maureen wohnte. Dass sie ihre Assistentin war, ihr Dienstmädchen. Doch Celia stammelte nur. Sämtliche Worte wollten auf einen Schlag aus ihrem Mund und verhedderten sich auf der Zunge. Heraus kam nur ein genuscheltes: »So ähnlich.«

»Wird Zeit, dass du von den Betschwestern wegkommst«, sagte Heather und legte ihre Hand auf Celias Unterarm. »Mensch, du bist ja ganz heiß!«, rief sie. »Du glühst wie ’n Ofen.«

»Ist nichts«, sagte Celia und schüttelte sich, weil sich Heathers Hand so eiskalt anfühlte. Sie wehrte Heathers Berührung ab und fragte: »Wie geht’s dir denn bei deinem Freund? Behandelt er dich gut?«

»Michael ist in Ordnung«, antwortete Heather betont gleichgültig. »Bisschen grob und grantig, eher der muffelige und maulfaule Typ, aber Hauptsache ich hab ’n Dach überm Kopf.«

»Das hattest du in der Hanbury Street auch.«

»Vergiss es!«, schnaufte Heather. »Da zahl ich lieber Miete bei Michael.«

»Du zahlst Miete?«

»Ist nur fair, oder?«, meinte Heather achselzuckend.

»Und wie willst du das Geld verdienen?«, wollte Celia wissen.

»Wie wohl?«, lachte Heather, grinste anzüglich und machte einen Kussmund.

»Nein!«, rief Celia entsetzt.

»Warum nicht? Dafür kümmert Michael sich um mich. Jeder braucht doch einen, der sich kümmert und für einen da ist, oder?«

»Nein«, wiederholte Celia, aber so leise, dass es nicht zu hören war.

»Wenn man vom Teufel spricht!«, rief Heather und deutete hinaus auf die Straße. Dort standen zwei Männer auf dem Bordstein, der eine mit dunkler Seemannsjacke, Schiebermütze und üppigem Vollbart, der andere mit einem dreckigen Bowler auf dem feisten Schädel und einem buschigen Schnauzbart im Gesicht. Während der Vollbart, der ältere der beiden, ein wenig steif und unbeholfen wirkte, erinnerte der andere an eine wütende Bulldogge.

»Wer von denen ist Michael?«, wollte Celia wissen.

»Der mit dem Schnauzer.«

»Oh!«, entfuhr es Celia gegen ihren Willen.

»Hab nicht behauptet, dass er eine Schönheit ist«, lachte Heather, stand auf und winkte ihrem Freund durch die Scheibe zu.

Auch Celia erhob sich und nickte den Männern etwas unsicher zu. Heathers Freund Michael hob lediglich die Augenbrauen und gab dann Heather mit einer unwirschen Handbewegung zu verstehen, dass sie sich beeilen solle. Der Mann mit dem Vollbart jedoch starrte Celia an, als wäre sie der Leibhaftige. Einen kurzen Augenblick lang dachte sie, bei dem Mann handelte es sich um den Vollbärtigen, den sie im People’s Palace vor dem Gemälde hatte stehen sehen. Den Mann, der ihre Mutter gekannt hatte, ohne ihr begegnet zu sein. Der Vollbart auf der Straße hatte allerdings keine derart runzlige Nase und war zudem nicht glatzköpfig. Doch er stierte sie an, als wäre er nicht bei Trost.

»Wer ist der andere Kerl?«, fragte Celia verunsichert.

»Ein Nachbar«, antwortete Heather. »Ein komischer Kauz, nicht ganz dicht in der Birne, wenn du mich fragst.« Sie zwinkerte Celia verschwörerisch zu, gab ihr einen Kuss auf die Wange, schüttelte nach der Berührung aber erschrocken den Kopf und sagte: »Du solltest ins Bett, Kindchen. Und zwar sofort! Du hast Fieber!« Sie streichelte ihr über den Arm und meinte im Gehen: »Ich muss los, sonst wird Michael sauer.«