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Heather ging hinaus, hakte sich vor der Tür bei ihrem Freund unter, der wiederum seinen Nachbarn hinter sich herzog. Durch ein Fenster sah Celia die drei gemeinsam in die Dorset Street einbiegen. Der Mann mit dem Vollbart schaute sich noch einmal mit großen Augen zu Celia um, dann waren sie aus ihrem Blickfeld verschwunden.

Celia stand wie erstarrt vor dem Fenster und schaute auf die andere Straßenseite, zur weißen Christ Church mit ihrem hohen Turm, der die dichten Wolken zu berühren schien. Dann sah sie auf die Kirchturmuhr und erschrak. Kurz vor vier! Um drei Uhr sollte sie mit Maureens Koffern im Volkspalast sein. Sie hatte es völlig vergessen. Wie sie den Einkauf vergessen hatte. Oder den Namen des Lords und des Londoner Gerichts. Wie sie überhaupt alles vergaß. Als wäre ihr Gehirn ein Sieb.

Sie eilte hinaus. Schaute in die Dorset Street. Heather und Michael betraten gerade ein Haus auf der rechten Seite. Der Mann mit dem Vollbart und der Schiebermütze war nicht mehr zu sehen. Ein Nachbar. Ein komischer Kauz. Celia wurde übel. Versuchte zu begreifen. Vergeblich. Sie fuhr herum und rannte los. Drei Uhr, hatte Maureen gesagt! Einen Penny hatte sie verloren. Jetzt nichts mehr essen und zu Fuß gehen. So wollte sie es machen. Doch das Bier schwappte in ihrem leeren Magen hin und her. Wie ein Rettungsboot auf hoher See. Wie der Kannibale des Meeres. Den man nicht verurteilt hatte, weil er ein Judas war. Ein Zeuge der Krone.

Celia lief die Straße mit den vier Namen entlang. Nach Osten. Immer weiter. Zählte die Schritte, musste ständig von vorne beginnen, weil sie die Zahlen vergaß. Als sie schließlich die White Horse Lane erreicht hatte, war sie am ganzen Körper nass vor Schweiß. Stank vermutlich wie Mrs. Adams hinter dem Empfangstisch. Drei Treppen bis zur Dachkammer. Außer Atem und hundeelend riss sie die Tür auf. Doch die Koffer waren weg. Der Schminkkoffer und die Kostümtasche. Weg! Sie schaute in der Küche. Nichts. Sie schaute im Schlafzimmer. Auch nichts!

Sie sackte auf die Knie. Das Bier schoss ihr aus dem Hals, bevor sie sich den Mund zuhalten konnte. Und gelbe Galle. Direkt vor Maureens Bett. Dann raste der Boden auf sie zu. Bis es mit lautem Krachen dunkel wurde.

DIENSTAG, 23. OKTOBER 1888

4

Sie kamen sie holen! Sie wusste nicht, ob sie wachte oder schlief. Doch sie wusste, dass die Männer sie holen würden. Im Traum und in der Wirklichkeit waren sie ihr erschienen und hatten sie angestarrt. Immer mit demselben Blick. Vertraut und doch verstört. Erst der junge Mann am Bahnhof Waterloo. Und tags darauf im Fackelzug der Heilsarmee. Mit dem roten Herz auf der Wange, so groß wie ein Half Crown. Ein hübsches Gesicht, mal als eingebildeter Gentleman, mal als derbe fluchender Arbeiter. Neben dem jungen Mann ein älterer Kerl mit Raubvogelaugen, Filzbart und Säufernase, auch er hatte sie angestarrt. Weil er Celias Mutter gekannt hatte, ohne ihr begegnet zu sein. Weil er Mary Tremain in Celia Brooks erkannt hatte. Wie Zwillingsschwestern. »Ich könnte schwören, dass ich dich von irgendwoher kenne«, hatte Rod Webster im George Inn gesagt. Auch er hatte sie erkannt, wegen des alten Fotos. Und schließlich der andere Mann. Der Nachbar. Vor dem Britannia Pub. Mit Vollbart und Seemannsjacke. Ein komischer Kauz. Nicht ganz richtig in der Birne. Warum hatte sie Heather nicht nach dem Namen des Mannes gefragt? Vielleicht weil sie die Antwort bereits wusste? Weil sie bereits am ersten Tag in London geahnt hatte, dass sie ihren Vater womöglich gar nicht wiedererkennen würde, selbst wenn er direkt vor ihr stünde?

»Nicht, kleine Celia!«

Eine kalte Hand legte sich auf ihre Stirn. Sie riss die Augen auf und schrie erschrocken auf. Das hübsche Gesicht stierte sie an. Ganz nah. Traurig lächelnd. Das auffällige Muttermal war unter einem Verband versteckt, aber Celia erkannte ihn dennoch. So leicht ließ sie sich nicht in die Irre führen. Sie wollte wegrennen, sich verstecken, doch es ging nicht. Sie konnte sich nicht bewegen. Hatte sich nicht unter Kontrolle. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie in einem Bett lag. In Maureens Bett. Im Nachthemd. Klitschnass. Der Mann griff nach ihr. Es war um sie geschehen. Sie bäumte sich ein letztes Mal auf und warf sich ins Kissen. Dann wurde ihr schwarz vor Augen.

Der Schmerz weckte sie. Ein fürchterliches Brennen. Als stünde sie auf einem Scheiterhaufen und würde bei lebendigem Leib verbrannt. Sie öffnete langsam die Augen und bemerkte, dass sich irgendetwas im Zimmer verändert hatte. Es war dunkler. Celia lag immer noch in Maureens Bett. Und der junge Mann saß nach wie vor auf der Bettkante. Immer noch hübsch und rosig. Wie der Teufel in Menschengestalt. Doch hinter ihm erkannte sie Maureens Gesicht. Stand sie mit den Männern im Bunde? Gehörte Maureen zu ihnen? Auf die andere Seite? Aber welche Seite war das?

»Sei ganz ruhig, Liebes«, sagte Maureen und lächelte. »Mr. Ingram wird dir helfen.«

»Au!«, war alles, was Celia hervorbrachte. Und noch einmaclass="underline" »Au!«

»Es brennt vermutlich sehr«, sagte der Mann namens Ingram, und seine Stimme klang so lieb und mitleidig, als wollte er sich über sie lustig machen. »Aber es wird die Entzündung aus dem Körper ziehen. Du musst jetzt tapfer sein.«

Da begriff Celia, woher das Brennen und der Schmerz kamen. Aus ihrem rechten Arm. Den sie gar nicht mehr spürte. Obwohl er so unendlich weh tat. Sie registrierte wie von weitem, dass das keinen Sinn ergab. Dann schrie sie auf, weil ihr der Schmerz glühend durch den Körper schoss. Der Mann hatte ihr den Finger der Länge nach aufgeschnitten, mit einem dampfenden Rasiermesser, das Maureen ihm gereicht hatte. Sie steckten alle unter einer Decke! Warum töteten sie Celia nicht einfach? Warum ließen sie sie ausbluten? Warum quälten sie sie?

Dann griff der Mann nach einer Ampulle, schüttelte und öffnete sie und tröpfelte den Inhalt auf ein Tuch, das sich sofort gelbrot verfärbte. Celia wollte die Hand wegziehen, doch Maureen half dem Mann, dessen Hände nun ebenfalls blutrot verschmiert waren. Von Celias Blut. Sie schrie, doch es half nichts, sie pressten ihr den getränkten Lappen auf die blutende Wunde, dass sie vor Schmerz beinahe ohnmächtig geworden wäre. Sie wollte den Mann kratzen, ihn beißen, ihn anspucken, doch im nächsten Augenblick hatte sie einen Löffel im Mund und verschluckte sich an einer bitteren und zähen Flüssigkeit.

»Du wirst jetzt schlafen, kleine Celia«, sagte der Mann und fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn, die nun ebenfalls blutverschmiert war.

»Du wirst wieder gesund«, sagte Maureen, während sie Celias Hand so stramm umwickelte, als wollte sie die Adern abschnüren. »Ganz bestimmt.«

»Geben Sie ihr in der Nacht noch etwas von dem Laudanum«, sagte der Mann und erhob sich. »Ich muss jetzt gehen, aber ich komme morgen früh wieder her. Dann wechseln wir den Verband.«

»Danke, Mr. Ingram«, sagte Maureen, reichte ihm ein Tuch, damit er sich Celias Blut aus dem Gesicht wischen konnte, und führte ihn aus dem Zimmer. »Sie sind unser Engel, Sir.«

»Rupert«, sagte der Mann. »Nicht Sir. Mein Name ist Rupert.«

»Sie sind unser Engel, Rupert.«

Teufel!, dachte Celia und schlief ein.

MITTWOCH, 24. OKTOBER 1888

5

Hunger! Als sie die verquollenen Augen aufschlug, hatte sie das Gefühl, seit Ewigkeiten nichts gegessen zu haben. Ihr Magen knurrte so laut und andauernd, dass sie erschrocken zusammenfuhr. Sie hatte Angst, das Geräusch könnte den leise schnarchenden Mann auf dem Stuhl wecken. Sein Kopf war zur Seite geneigt, lag auf der linken Schulter. Eine Kerze auf einem kleinen Beistelltisch beleuchtete sein blasses Gesicht. Sie sah das herzförmige Muttermal, das nun nicht mehr verbunden war. Es sah entzündet und verkrustet aus, als hätte er sich daran gekratzt. Mr. Ingram. So hatte Maureen ihn genannt. Celia kam der Name bekannt vor. Woher nur? Sie konnte sich nicht erinnern.