Ihr rechter Arm war verbunden, von den Fingern bis zum Ellbogen. Es brannte noch ein wenig, aber der Schmerz hatte nachgelassen. Kein Scheiterhaufen mehr. Nur noch Restglut. An der Hand war der Verband besonders dick und gelblich gefärbt. Es roch seltsam, wie in Mr. Morrisons Apotheke an der Church Street in Brightlingsea. Nach Kräutern und Chemikalien. Und nach Lakritze. Süßholz und Salmiak.
Wie spät es wohl sein mochte? Und welcher Tag? Wie lange hatte sie geschlafen? Durch die offene Tür konnte sie in den unbeleuchteten Flur und in die Küche schauen, doch durch das schmale Küchenfenster kam kein Licht herein. Die Sonne war bereits unter-oder noch nicht aufgegangen. Maureen war nirgends zu sehen. Auch nicht auf Celias Matratze unter der Dachschräge. Dort lag nur Celias Lederkoffer. Sie beugte sich nach rechts, um besser durch die Tür schauen zu können, doch die Bewegung tat höllisch weh, sie ächzte vor Schmerz. Das weckte den Mann. Ingram. Er lächelte, wirkte erfreut oder erleichtert, sagte aber keinen Ton. Lächelte nur und nickte aufmunternd.
»Wo ist Maureen?«, fragte Celia. Es war eher ein Wispern. Ihre Kehle war ausgedorrt. Jedes Wort tat weh.
»Im People’s Palace«, sagte der Mann. »Auf der Bühne. Sie hat einen Auftritt.«
»Oh!«, entfuhr es Celia, und sie wollte sich aufrichten. »Ich muss … sie braucht mich …« Wieder fuhr ihr der Schmerz aus dem rechten Arm direkt in den Hinterkopf. Und von dort in den Rücken. Wie ein Stromschlag. Sie sank zurück ins Kissen. Atmete schwer und schluckte. Die Zunge wie Sandpapier.
»Es ist alles in Ordnung, Celia«, sagte der Mann und legte beruhigend seine Hand auf ihre linke Schulter. »Maureen wird bald wieder da sein. Seien Sie unbesorgt, alles wird gut. Werden Sie erst einmal gesund.«
»Ich bin nicht krank«, widersprach Celia halbherzig.
»Sie haben fast zwei Tage geschlafen«, antwortete er und deutete zu dem Beistelltisch, auf dem verschiedene Fläschchen und Ampullen sowie Verbandszeug und eine flache Schüssel mit einer gelblichen Tunke abgestellt waren. »Aber jetzt ist das Schlimmste überstanden. Das Fieber sinkt. Die Wunde heilt allmählich.«
»Wer sind Sie?«
»Mein Name ist Rupert Ingram«, sagte er und neigte den Kopf.
»Wer sind Sie?«, wiederholte Celia.
»Ein Freund.«
»Woher kennen Sie mich?«
»Später, Celia«, sagte er, goss Wasser aus einer Karaffe in ein Glas und reichte es ihr. »Das hat Zeit. Erst müssen Sie zu Kräften kommen. Trinken Sie! Haben Sie Hunger?«
Celia trank gierig und nickte gleichzeitig. Deshalb lief ihr das Wasser über das Kinn, sie verschluckte sich.
»Langsam, nicht so hastig!«, sagte Mr. Ingram und legte ihr ein Tuch auf die Brust. »Ich mache Ihnen einen Haferbrei. Und etwas warme Milch. Mit Honig.« Er stand auf und fuhr ihr mit der Hand über den Scheitel. Wie ein besorgter Vater einem kranken Kind. Es fühlte sich schön an. Beruhigend. Und Celia schämte sich, dass sie ihn noch vor Kurzem in ihrem Fieberwahn für den Teufel in Person gehalten hatte.
Dein Vater ist ein Teufel!, schoss es ihr durch den Kopf. Hüte dich vor ihm! Doch dafür war es zu spät. Sie wusste nun, wo der Teufel wohnte. Ungefähr jedenfalls. Und wie er aussah. Sie war ihm begegnet.
Celia musste wieder eingeschlafen sein, denn als sie die Augen auftat, war Maureen da. Sie stand im winzigen Flur und unterhielt sich mit Mr. Ingram, der einen langen Mantel trug und einen Zylinder in der Hand hielt. Auf dem Beistelltisch neben dem Bett standen eine Holzschüssel mit einem kleinen Rest Brei und ein halbes Glas Milch. Sie konnte sich nicht erinnern, etwas gegessen zu haben, doch das Hungergefühl war verschwunden. Wie konnte das sein? War es möglich, gleichzeitig zu schlafen und wach zu sein? Zu essen, ohne es zu merken? Oder hatte ihr Hirn die Erinnerung daran ausradiert?
»Der Verband ist gewechselt«, sagte Mr. Ingram und reichte Maureen die Hand. »Ich habe ihr ein wenig Laudanum in den Brei gerührt. Zur Sicherheit. Damit sie schläft. Morgen wird es ihr sicherlich besser gehen. Dann braucht sie auch kein Opium mehr. Das Schlimmste ist überstanden.«
»Müssen Sie wirklich schon gehen, Rupert?«, fragte Maureen, deren Gesicht noch von ihrem Auftritt geschminkt war. Unter ihrem Umhang trug sie das durchsichtige Bühnenkostüm, wie Celia an den Rüschen erkannte, die aus den Ärmeln hervorlugten. Offensichtlich hatte Maureen sich beeilt, aus dem Volkspalast herzukommen. Sie sagte: »Ich ziehe mich nur schnell um, dann koche ich Ihnen einen Kaffee. Oder mögen Sie lieber Tee? Ich könnte auch Mrs. Adams nach etwas Bier oder Wein fragen, wenn Sie möchten.«
»Das ist sehr nett, Maureen«, antwortete er und schüttelte den Kopf. »Aber es ist schon spät, und ich muss jetzt gehen. Morgen werde ich leider nicht kommen können, da ich unterwegs sein werde. Donnerstags bin ich immer in Dorking.«
»Wie schade«, sagte Maureen, die immer noch Mr. Ingrams Hand schüttelte.
»Wir sehen uns am Freitag«, sagte er und deutete in Celias Richtung. »Geben Sie gut acht auf sie, und lassen Sie Celia nicht aus dem Bett. Sie braucht jetzt viel Ruhe und muss erst wieder zu Kräften kommen.« Er entzog Maureen die Hand und wandte sich zur Tür. Im Hinausgehen sagte er: »Ich habe etwas auf dem Küchentisch hinterlassen. Für Essen und Medizin.«
»Wir brauchen kein Geld«, protestierte Maureen. »Wir kommen zurecht.«
»Ich weiß«, sagte er. »Bitte verstehen Sie es nicht als Almosen. Ich möchte nur helfen.«
»Warum?«
»Bis Freitag!«, antwortete er ausweichend und verließ die Dachkammer.
DONNERSTAG, 25. OKTOBER 1888
6
An der Mündung des Colne, gleich unterhalb des Zuflusses des Alresford Creeks, gab es eine Stelle, die gerade breit und tief genug war, um vom östlichen Flussufer aus bis nach Fingringhoe Wick am Westufer zu tauchen. Als Kinder hatten sie diese Mutprobe oft im Sommer bei steigender Flut ausprobiert. Wenn der Tidenhub zu groß oder der Zulauf des Creeks zu stark gewesen war, waren sie von der Strömung mitgerissen worden und flussabwärts mitten im Colne wieder aufgetaucht. Was auch wegen des dichten Schiffsverkehrs nicht ungefährlich war. Doch wenn man Glück hatte und die Luft und Kraft reichte, schaffte man es hinüber bis ans westliche Ufer. Wenn man dort in den Salzmarschen des Wicks wieder auftauchte und mit pfeifenden Lungen nach Luft schnappte, kam es einem vor, als wäre man wie neugeboren. Der Stolz, es geschafft zu haben, und die Erleichterung, endlich wieder einatmen zu können, verschafften einem ein unglaubliches Hochgefühl. Jedenfalls war es Celia immer so ergangen. Und genauso fühlte sie sich, als sie am späten Donnerstagmorgen beim Erwachen bemerkte, dass sie zum ersten Mal seit Tagen beinahe schmerzfrei war und wieder klar denken konnte. Der Druck in ihrem Schädel und der Schleier vor ihren Augen waren verschwunden, keine heißen Schauer und Stromschläge mehr, keine Schweißausbrüche, nur erleichtertes Aufatmen und Durchschnaufen. Sie war wieder aufgetaucht. Sie hatte es bis nach Fingringhoe Wick geschafft!
»Na, du machst ja Sachen«, wurde sie augenzwinkernd von Maureen begrüßt, die auf dem Stuhl saß, auf dem gestern Mr. Ingram gesessen hatte. Auf dem Beistelltisch standen eine dampfende Schüssel Grießbrei und ein Becher Milch. Daneben ein Glas mit Honig. »Hast du Hunger? Möchtest du Milch? Dein reicher Freund hat es an nichts mangeln lassen.« Sie lachte, deutete auf das Glas und sagte: »Ich weiß gar nicht, wann ich das letzte Mal Honig gegessen habe. Mr. Ingram hat sogar Orangen besorgt, damit du wieder auf die Beine kommst.«
»Er ist nicht mein Freund«, sagte Celia und verschlang den Grießbrei, der mit Zimt und Zucker gesüßt war. Eine Köstlichkeit! Zugleich aber fühlte sie sich beklommen, weil sie nicht wusste, womit sie die Freundlichkeit und die teuren Zuwendungen dieses seltsamen jungen Mannes verdient hatte. Oder was er in Zukunft als Gegenleistung dafür erwarten mochte.