Auf dem kurzen Weg von Whitechapel zum benachbarten Spitalfields hatte Adam Bedford nur wenige Worte darüber verloren, wohin er Celia führen wollte, aber sie war ihm dennoch bereitwillig durch die ärmliche Brick Lane nach Norden gefolgt, wie ein Gänseküken der Mutter. Der junge Soldat der Heilsarmee strahlte eine derartige Gelassenheit und Zuversicht aus, dass Celia tatsächlich zu glauben anfing, sie hätte Freunde in London, von denen sie bislang nichts gewusst hatte. Freundinnen, wie sie Adams spärlichen Erklärungen entnahm, denn Männern war das Betreten des Frauenheims untersagt. Das galt sogar für Heilsarmisten.
Als sie nach etwa einer Viertelstunde vor einem dreistöckigen Backsteinhaus anhielten und Celia die rußgeschwärzte Fassade im Licht einer Gaslaterne in Augenschein nahm, war sie zunächst enttäuscht. Das Gebäude mit der Hausnummer 194 war äußerlich ebenso verwahrlost und baufällig wie die meisten Häuser in der Gegend. Die Hanbury Street war vielleicht nicht so stark befahren und von so vielen verlotterten Gestalten bevölkert wie die Whitechapel Road, wirkte aber ebenso heruntergekommen und schmutzig. Kein Platz zum Verweilen und Wohlfühlen.
»Schließe nicht vom Äußeren aufs Innere«, sagte Adam, als könnte er ihre Gedanken vom Gesicht ablesen. »Das gilt übrigens für Menschen wie für Häuser. Schau nicht mit den Augen, Celia, sondern mit dem Herzen.« Er deutete auf das Nachtasyl mit seinem bröckelnden Putz, den vernagelten Fenstern und dem windschiefen Dach und setzte lächelnd hinzu: »Es sieht zwar nicht so aus, aber es wird dir ein Heim und eine Burg sein. Dafür sorgt Captain Soper Booth.«
»Captain?«, wunderte sich Celia. »Also gibt es doch einen Mann im Heim?«
»Captain Florence Soper Booth«, setzte Adam hinzu. »Sie ist die Schwiegertochter des Generals.«
»In eurer Armee gibt es Frauen als Offiziere?« Celia lachte unwillkürlich auf und schüttelte den Kopf. »Da könnt ihr vermutlich froh sein, dass ihr keinen wirklichen Krieg führen müsst.«
»Und ob das ein wirklicher Krieg ist«, entgegnete Adam und machte eine finstere Miene. Es war offensichtlich, dass Celias Worte ihn verletzt hatten. »Ein Krieg gegen einen übermächtigen und hinterhältigen Feind, gegen die Sünde selbst. Einigen ihrer Anhänger bist du gerade erst in die Arme gelaufen. Und das waren nur ein paar großmäulige Trinker!«
»Entschuldige!«, sagte Celia kleinlaut, blickte beschämt zu Boden und folgte Adam die Stufen zum Eingang des Nachtasyls hinauf. »Tut mir leid.«
»Und wie kommst du überhaupt darauf, dass Frauen keine Armee führen können?«, fragte Adam, während er den Türklopfer auf das Holz hämmern ließ. »Hältst du dich selbst für so viel schlechter als einen Mann?«
»Ich weiß nicht«, erwiderte Celia achselzuckend. »Kommt mir nur irgendwie komisch vor.«
»Wenn du Captain Florence gesehen hast, wirst du anders darüber denken«, sagte Adam, klopfte erneut und legte Celia kurz eine Hand auf die Schulter zum Zeichen, dass er ihr nicht böse war. »Und Captain Eva erst! Du wirst dich wundern.«
»Ist das die Eva, die morgen in der Church Street spricht?«
Adam nickte überrascht und sagte: »Hätte nicht gedacht, dass du vorhin zugehört hast. Es würde mich freuen, wenn wir uns dort sehen. Es steht alles auf dem Handzettel, den ich dir gegeben hab. Es wird einen Fackelzug mit Musik geben, und anschließend spricht Schwester Eva vor der Höhle des Löwen, wenn du so willst.«
Celia nickte, obwohl sie nicht begriff, was Adam damit meinte. Sie fasste in die Manteltasche, in der sie das Flugblatt verstaut hatte. Im selben Augenblick wurde die Tür geöffnet, und eine alte Frau erschien auf der Schwelle, mit säuerlicher Miene und einer Petroleumlampe in der Hand.
»Gott zum Gruß, Schwester«, sagte Adam und streckte seine Hand in die Höhe, wobei er mit dem Zeigefinger zum Himmel wies. »Ist Schwester Florence da?«
Die Alte, die ebenfalls eine Art Uniform oder Schwesterntracht aus dunkelblauem Stoff trug, hob wie Adam die rechte Hand und deutete mit dem Zeigefinger nach oben. Dann schüttelte sie den Kopf, der unter einer übergroßen schwarzen Strohhaube nahezu verschwand, und sagte: »Der Captain ist schon weg. Nur die Nachtschicht ist noch da, aber die anderen schlafen schon. Eigentlich ist um diese Zeit kein Einlass mehr.«
»Eine Freundin braucht unsere Hilfe«, sagte Adam und wies auf Celia.
»Es sind noch ein paar Betten frei«, knurrte die Frau nicht eben freundlich und hielt die Lampe direkt vor Celias Gesicht. »Komm rein, Kind! Drinnen ist es wärmer.«
Celia zögerte und blieb auf dem Treppenabsatz stehen.
»Kostet dich nichts und verpflichtet dich zu nichts«, versicherte Adam, der immer noch den Zeigefinger gen Himmel streckte, was etwas ulkig aussah. »Schlaf erst einmal! Morgen sehen wir weiter, ja?«
»Danke«, sagte Celia nickend und folgte der alten Frau ins Haus.
»Bis morgen«, hörte sie Adam draußen sagen, dann fiel die Tür ins Schloss.
»Willst du Suppe?«, meinte die Alte und ging weiter, ohne auf eine Antwort zu warten. »Oder Tee? Ist noch was vom Abend übrig.«
Celia nickte, folgte ihr durch die schmale Eingangshalle und bestaunte ein Spruchband, das über einer Tür angebracht war. »Suppe, Seife, Seelenheil«, stand darauf geschrieben, was Celia wider Willen erneut zum Lachen brachte.
»Was gibt’s da zu kichern?«, knurrte die Alte. »So ist es nun einmal. Ein hungriger Mensch hat anderes im Sinn, als seine Seele zu retten. Also füttern wir ihn. Ein dreckiger Mensch ist voller Scham und deshalb nicht für die Frohe Botschaft zugänglich. Also waschen wir ihn. Erst danach kann das Wort Gottes wirken. Setz dich!« Sie war durch die Tür in die Küche getreten und deutete nun auf einen langen Tisch, an dem mindestens ein Dutzend Menschen Platz finden konnte.
Während sich die Schwester am Herd zu schaffen machte, auf dem ein riesiger gusseiserner Kessel stand, schaute Celia sich um. Ein weiterer langer Tisch stand an der gegenüberliegenden Wand, in einem Bottich in der Ecke erblickte sie die dreckige Lauge vom letzten Abwasch.
Celia wunderte sich, dass die Frau, die sich als Esther vorstellte, überhaupt nichts über sie wissen wollte. Sie erkundigte sich nach Celias Namen und Alter, doch davon abgesehen stellte sie keine Fragen, sondern kümmerte sich schweigend um das Feuer im Ofen und stellte schließlich einen Teller dampfende Kartoffelsuppe und eine Tasse Tee vor Celias Nase. »Hier ist schon mal die Suppe«, sagte sie und lachte schnarrend. »Um deine Seele kümmern wir uns später.«
Als Celia sich nach den Hausregeln erkundigte, zuckte Esther mit den Schultern und meinte: »Es reicht, wenn du dich an die Zehn Gebote hältst. Ach ja, und keine Männer, keinen Tabak und keinen Alkohol! Ansonsten fordern wir nichts, was du nicht freiwillig geben willst.«
»Ich muss tatsächlich nichts bezahlen?«, wunderte sich Celia.
»Über Spenden freuen wir uns natürlich, aber das ist keine Pflicht«, antwortete Esther. »Wenn du für unser Asyl arbeiten oder Soldatin des Heils werden willst, würde uns das ebenfalls glücklich machen. Wenn nicht, wirst du deswegen aber nicht geringer geachtet. Dies ist kein Arbeitshaus. Und falls es dir bei uns nicht gefällt, steht es dir jederzeit frei zu gehen. So hat es Schwester Florence bestimmt, und daran halten wir uns.«
»Ist sie nun deine Schwester oder dein Captain?«, fragte Celia, während sie die Kartoffelsuppe mit Heißhunger verschlang und sich gleichzeitig Mühe gab, dabei nicht zu gierig zu wirken.