»Woher kennst du diesen Ingram?«, fragte Maureen neugierig. »Er hat nur so komisch rumgedruckst, als ich ihn danach gefragt habe. Wollte offensichtlich nicht darüber reden.«
»Ich kenne ihn nicht«, antwortete Celia wahrheitsgemäß. »Ich habe ihn nur zweimal gesehen. Ganz zufällig und flüchtig. Es ist nicht so, wie du jetzt vielleicht denkst. Das musst du mir glauben, Maureen!«
»Und wieso macht er dann das alles?« Sie deutete auf die Arzneien auf dem Tisch und setzte hinzu: »Er hat seit Dienstag fast ununterbrochen an deinem Bett gesessen und dich gepflegt. Wie so ’ne Florence Nightingale. Obwohl du ihn in deinem Fieber ziemlich beschimpft hast.«
»Oh, wie schrecklich!«, rief Celia und ließ den Löffel sinken, den sie mit der linken Hand ohnehin nicht gut halten konnte. »Ich schäme mich so.«
»Das musst du nicht«, erwiderte Maureen und rührte Honig in die Milch. »Du wusstest ja nicht, was du tust. Und Mr. Ingram hat es dir nicht übel genommen. Er war ganz rührend besorgt um dich. Das waren wir beide.«
»Er hat ein schlechtes Gewissen«, sagte Celia und starrte dabei auf ihren rechten Unterarm, der nur noch bis knapp über dem Handgelenk verbunden war. Die Haut oberhalb des Verbands war ganz gelb vom Jod und Karbol. Aber nicht mehr rot wie vor einigen Tagen. Dann sagte sie: »Wegen der Ratten.«
»Ratten?«
Celia berichtete der sichtlich erstaunten Maureen von ihren beiden Begegnungen mit Rupert Ingram. Von ihrem Zusammenstoß mit dem hochnäsigen Gentleman am Bahnhof und der schmerzhaften Begegnung mit dem einfachen Arbeiter im Fackelzug. Sie erzählte von den beißenden Ratten, von der Skeleton Army und den fliegenden Farbbeuteln und Steinen. Und von der schallenden Ohrfeige durch Captain Eva Booth.
Maureen starrte sie an, als glaubte sie ihr kein Wort. Vermutlich überlegte sie, ob Celia immer noch im Fieber fantasierte, doch schließlich sagte sie: »Das klingt nicht nach dem Mr. Ingram, den ich in den letzten Tagen kennengelernt habe.«
Celia überlegte, ob sie Maureen auch von dem Mann mit den Raubvogelaugen erzählten sollte. Von Mr. Ingrams verwahrlostem Skeleton-Freund, der vor einem Bild der Liebe geweint hatte und erschrocken vor einem berühmten Dichter davongelaufen war. Doch dann sah sie davon ab. Es hätte zu verrückt geklungen.
»Es tut mir leid«, sagte sie, »dass ich dich enttäuscht habe.«
»Nicht doch! Du warst krank, Celia!«, antwortete Maureen kopfschüttelnd. »Dir muss nichts leidtun. Ganz im Gegenteil.« Sie wandte sich ab, räusperte sich und deutete in die Küche. »Ich meine, wegen dem Obst und der Süßigkeiten.« Sie lachte etwas aufgesetzt und setzte hinzu: »Ich hätte es mit meinem Dienstmädchen wahrlich schlechter treffen können.«
Celia hatte den Brei gegessen, die Milch getrunken und sich anschließend, mit Maureens Hilfe, auf dem Nachttopf erleichtert. Als sie sich mit zitternden Beinen vom Nachtgeschirr erhob und dabei von Maureen gestützt werden musste, schoss ihr plötzlich ein fürchterlicher Gedanke durch den Kopf. Hatte sie etwa in den letzten Tagen in Mr. Ingrams Gegenwart ebenfalls auf dem Topf gesessen, hatte er ihr womöglich beim Verrichten ihrer Notdurft geholfen? Oder hatte sie gar während ihrer Ohnmacht ins Bett gemacht? Der Gedanke war so quälend und erniedrigend, dass sie die Augen schloss, sich aufs Bett fallen ließ und sich unter der Decke verkroch.
»Ich bringe den Topf nach unten«, sagte Maureen. »Ich muss ohnehin noch einige Besorgungen machen. Soll ich dir etwas mitbringen?«
Celia schüttelte den Kopf. Es wäre ihre Aufgabe gewesen, den Nachttopf zu leeren und die Einkäufe zu erledigen. Stattdessen ließ sie sich von Maureen bedienen, als wäre sie die Herrin. Wie peinlich das war! Wie unpassend!
»Brauchst du sonst noch etwas?«, fragte Maureen.
»Meine Bücher«, sagte Celia und deutete auf ihren Koffer.
»Streng dich nicht zu sehr an«, mahnte Maureen und stellte den Lederkoffer auf das Bett. »Du brauchst Ruhe. Lesen schadet nur.«
Ja, dachte Celia, Lesen schadet. Sie hatte in den letzten Tagen viel Schädliches gelesen. Auf Postkarten. In Zeitungen. Auf Fotografien. In Folianten.
»Ich blättere nur ein wenig in Mutters Büchern«, sagte sie und holte eines der Bücher aus dem Koffer, während Maureen mit dem gefüllten Nachttopf in der Hand die Wohnung verließ.
Genau zwei Bücher hatte ihre Mutter besessen – abgesehen von der Bibel und dem Gebetbuch der Kirche von England, die Celia allerdings in Brightlingsea gelassen hatte. Alle anderen Schriften und Romane, die ihre Mutter in großer Zahl verschlungen hatte, hatte sie aus der Pfarrbücherei entliehen oder von Freunden geborgt. Nur diese beiden Bände hatten Mary Brooks tatsächlich gehört: Murrays Handbuch des modernen London von 1860 und außerdem ein kleines, bereits zerfleddertes Büchlein mit Sinnsprüchen und Zitaten.
Celia griff nach dem Zitatebuch, in dessen Einband ihre Mutter ihren Namen geschrieben hatte: Mary Tremain. In einer fast kindlich wirkenden Schrift. Celia blätterte flüchtig durch das Buch, in dem manche Passagen unterstrichen oder am Rand mit Ausrufe-oder Fragezeichen versehen waren. Eine Zeile am Ende des Buches, es handelte sich um einen biblischen Psalm, war doppelt unterstrichen und zudem mit einem Ausrufezeichen versehen. Celia las: »Gedenke nicht der Sünden und Verfehlungen meiner Jugend.«
Celia schluckte und hatte plötzlich einen Kloß im Hals. Schnell legte sie das Buch beiseite und griff sich den alten Reiseführer, dessen Einband fleckig und abgerieben war. Auch das Handbuch von London hatte Mary Tremain mit ihrem Namen versehen, in der gleichen kindlichen Sonntagsschrift. In der Mitte des Buches steckte ein Lesezeichen, das Celia schon oft angesehen hatte, das sie aber seit einigen Tagen mit anderen Augen betrachtete. Es handelte sich um einen Werbezettel des George Inn in Southwark. »Inhaber: Rodney Webster«, wie unten auf dem schmalen Zettel neben der Adresse des Gasthauses vermerkt war. Auf dem Papier wurden das feine Ale und das würzige Porter gelobt, die im George ausgeschenkt wurden. Außerdem wurde auf die hervorragende warme Küche und die freundliche Bedienung hingewiesen. Auf dem Lesezeichen gab es keine handschriftlichen Vermerke oder Unterstreichungen. Nur ein belangloser Werbezettel eben.
Die Seiten, zwischen denen das Lesezeichen eingeklemmt war, hatte Celia ebenfalls schon häufig überflogen, ohne jedoch irgendetwas Interessantes zu entdecken. Auf der linken Hälfte befanden sich zwei Spalten mit Text, auf der rechten Seite war die Abbildung eines sehr vornehmen Hauses zu sehen. Der Text befasste sich mit verschiedenen Unterkünften und Gasthäusern, allerdings nicht in Southwark, sondern im vornehmen West End. Die Illustration zeigte eines der noblen Hotels an der Piccadilly, das Hatchett’s Hotel. Auf dem Bild hatte sich der Besitzer des Hotels mit seiner Frau vor dem Eingang postiert, und unter der Illustration hieß es in Kursivschrift: Eine gute Adresse in Mayfair. Hatchett’s Hotel von Mr. & Mrs. Harvey Ingram. 67 Piccadilly.
Ingram! Jetzt wusste Celia, wieso ihr der Name so bekannt vorgekommen war. Sie hatte ihn schon oft im Reiseführer gelesen. Und sie dachte an Maureens Worte: Lesen schadet!
SIEBTER TEIL
»It is not how many years we live,
but rather what we do with them.«
(»Es geht nicht darum, wie viele Jahre wir leben,
sondern vielmehr darum, was wir mit ihnen anfangen.«)
Eva Cory Booth
DONNERSTAG, 25. OKTOBER 1888
1
Während ich in Epsom auf meinen Anschlusszug nach Dorking wartete, verwünschte ich meine wöchentlichen Besuche in Bury Hill und die ganze verdammte Sippe der Barclays, zu der ich bald selbst gehören sollte. Zum Teufel mit ihnen! Dabei waren es gar nicht der Widerwillen gegen meine zukünftige Braut Meredith oder die Aussicht auf ermüdende Gespräche mit meinem langweiligen Schwiegeronkel Robert, die meine Laune trübten, sondern die unerledigten und verwirrenden Angelegenheiten in London, die mich mürrisch im Wartesaal der ersten Klasse hocken ließen. Ungeachtet des Rauchverbots zündete ich mir eine Zigarette nach der anderen an. So viele drängende Fragen hatten sich in den vergangenen Tagen in meinem Kopf angehäuft, und so wenige Antworten hatte ich bislang erhalten. Jedenfalls keine befriedigenden oder umfassenden. Denn jede Erklärung hatte eine weitere Unklarheit gebracht, und jedes neue Puzzleteil hatte das Gesamtbild nur noch verworrener gemacht.