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Hinzu kam das schlechte Gewissen. Statt am Krankenbett der armen Celia zu sitzen und mich darum zu kümmern, dass ihre Genesung weiterhin gut voranschritt und das verzehrende Fieber endgültig gebannt wurde, vergeudete ich wertvolle Zeit mit meinen nichtigen Privataffären in Surrey. Aber war Celia Brooks inzwischen nicht auch eine Art Privataffäre geworden? Spätestens seit meinem gestrigen zweiten Besuch beim Fotografen in der Fenchurch Street? Seitdem ich den Namen meines Vaters im Auftragsbuch des einstigen Fotostudios Newcombe gelesen hatte. Vermutlich hatte ich Celia auch deshalb zu meiner persönlichen Angelegenheit gemacht und mich ihretwegen sogar über jede Form des Anstands und alle Regeln der Etikette hinweggesetzt. Die Vorstellung, dass Celia in Maureen Watsons Abwesenheit von der widerlichen Mrs. Adams oder ihrem begriffsstutzigen Dienstmädchen gepflegt würde, war mir so unerträglich gewesen, dass ich sie kurzerhand fortgeschickt und mich ganz allein um die Kranke gekümmert hatte. Wider alle Anstandsvorschriften.

Auch den Arzt, einen griesgrämigen Deutschen namens Liebermann, hatte ich des Zimmers verwiesen. Am Dienstagabend, mehr als zehn Stunden, nachdem man ihn benachrichtigt hatte, war er in der White Horse Lane erschienen und hatte sich als Erstes darüber mokiert, dass man ohne sein Wissen oder seine ärztliche Anleitung mit der Behandlung der Kranken begonnen habe. So etwas sei lebensgefährlich und könne von ihm unter keinen Umständen toleriert werden, schimpfte er und besah sich die »Bescherung«, wie er es nannte. Er kontrollierte den Lister’schen Verband, musterte die geöffnete und gereinigte Wunde, prüfte die Fläschchen mit Karbol und Jod und meckerte anschließend, warum man überhaupt nach ihm geschickt habe, wenn man doch offensichtlich alles besser wisse und seine ärztliche Autorität so augenfällig untergrabe. Auf meine Frage, was wir denn falsch gemacht hätten oder ob etwas an dem Wundverband geändert werden müsste, wusste er keine Antwort, nuschelte etwas Unverständliches auf Deutsch und erging sich schließlich in Fragen des Prinzips und der medizinischen Grundsätze. Wenn jeder dahergelaufene Laie sich zum Arzt aufschwinge, wäre die Menschheit bald durch Krankheiten und Seuchen ausgerottet. Dass das arme Mädchen trotz meiner dilettantischen Heilversuche noch am Leben sei, habe sie lediglich einem glücklichen Schicksal zu verdanken.

»Ihre Heilkunst hatte jedenfalls nichts damit zu tun!«, rief ich aufgebracht, packte ihn beim Kragen und geleitete ihn aus der Wohnung. Sein spätes Erscheinen ließ er sich dennoch fürstlich entgelten, immerhin habe er wichtige Notfälle hintenangestellt, nur um sich um solche Lappalien zu kümmern.

Ich gab ihm sein Geld und schickte ihn, unter den missbilligenden Blicken der Zimmerwirtin, zum Teufel. Mrs. Adams und ihr Dienstmädchen wechselten vielsagende Blicke, schüttelten ihre unansehnlichen Köpfe und führten den sichtlich pikierten Dr. Liebermann nach unten.

Dass die Wirtin und der Arzt mich vermutlich für Celias Liebhaber hielten und dass mein Benehmen für Außenstehende in höchstem Maße anstößig erscheinen musste, kümmerte mich wenig. Erst einmal musste das Mädchen gesund werden, mit Arzt oder ohne. Auf etwaige Verletzungen irgendwelcher Moralregeln oder Ehrbegriffe konnte ich im Moment keine Rücksicht nehmen. Jedenfalls was meine Person betraf. Dass der Ruf der kleinen Celia keinen Schaden nehmen würde, dafür würde ich schon Sorge tragen.

Meine Gedanken wanderten wieder zu meinem Vater zurück. Als ich gestern, am späten Mittwochnachmittag, zum zweiten Mal im Fotoladen der Gebrüder Taylor erschienen war und man mir voller Stolz den großformatigen Abzug eines Fotos und das vergilbte Geschäftsbuch des Jahres 1867 präsentiert hatte, war ich einerseits überrascht gewesen und hatte andererseits lediglich bestätigt gefunden, was ich bereits seit einiger Zeit vermutet hatte. Das Foto, auf dem Celias Mutter in weißem Sonntagskleid zu sehen war, ähnelte dem Gemälde, das bis vor Kurzem in Vaters Büro gehangen hatte, auf verblüffende Weise. Es zeigte die gleiche junge Frau mit dem gleichen forschen Blick, allerdings ohne das pittoreske Brimborium, das Simeon dem späteren Hirtengemälde hinzugefügt hatte. Wenn ich nicht gewusst hätte, dass das Foto viel älteren Datums war, hätte ich darauf gewettet, dass es niemand anderen als Celia Brooks zeigte.

Doch das Auftragsbuch des C. T. Newcombe ließ keinen Zweifel. Das Foto war vor nunmehr einundzwanzig Jahren, im Jahr 1867, aufgenommen worden, und neben der Nummer des Negativs war eine Lieferadresse vermerkt: Mr. Harvey Ingram, Hatchett’s Hotel, 67 Piccadilly, London W. Darunter stand mit doppelter Unterstreichung: »Persönlich!«.

Wenn das Foto an meinen Vater geliefert worden war, warum befand es sich dann in Celias Besitz? Hatte er es Celias Mutter geschenkt? Oder gab es mehrere Abzüge des Bildes? Und wieso hatte mein Vater vor etwa acht Jahren das riesige Gemälde in Auftrag gegeben? Grays diesbezügliche Fragen kamen mir wieder in den Sinn: »Wieso malt jemand ein Foto ab? Ist das nicht irgendwie Unsinn?« Und wer war der Mann gewesen, der Simeon das Foto als Vorlage für das Gemälde überbracht hatte? »Das war kein Gentleman«, hatte Simeon gesagt, »vielleicht ein Handwerker oder einfacher Ladenbesitzer.«

Gern hätte ich meinem Vater all diese Fragen gestellt, doch leider befand er sich seit dem gestrigen Mittwoch auf Geschäftsreise an der Südküste und würde erst heute am späten Abend wieder in London sein. Ich musste mich also wohl oder übel gedulden und ärgerte mich über meinen Vater. Als ich ihn gefragt hatte, wer die Frau in Weiß auf dem Gemälde sei, hatte er »irgendeine Hirtin« zurückgegeben und betont ahnungslos die Achseln gezuckt. Bei einer Auktion habe er das Gemälde ersteigert. Weil ihn die Hirtin an unsere Mutter erinnert habe. Heuchler!

Mary Brooks. Ihr Name was das Einzige, was Maureen Watson mir über Celias verstorbene Mutter hatte mitteilen können. Und dass Celia auf der Suche nach ihrem verschollenen Vater war. Ned Brooks. Einem schiffbrüchigen Seemann und mutmaßlichen Kannibalen des Meeres, der seine blutrünstige Geschichte in schäbigen Kuriositätenkabinetten im East End zur Schau gestellt hatte. Das hatte zumindest Miss Watson behauptet. Doch auf welche Weise mein Vater mit der aus einem kleinen Dorf in Essex stammenden Familie Brooks verbandelt war, konnte auch sie mir nicht erklären. Dass die hübsche Mary seine Mätresse gewesen sein musste, lag nahe, doch alles andere war mehr als ungewiss. Und auch Celia war nicht in der Lage gewesen, auf diese Fragen zu antworten. Sie hatte mich lediglich wie einen Unhold angestarrt und ein ums andere Mal im Fieberwahn als »Teufel!« beschimpft.

Es war schon eine äußerst seltsame Fügung des Schicksals, die uns alle in diesen Tagen im Londoner East End zusammengeführt hatte. Simeon, Celia und mich. Im Gewimmel eines Fackelzugs. Ein merkwürdiges Dreigestirn. Besiegelt durch den Biss einer Ratte. Und wieder überkam mich das schlechte Gewissen, weil ich es gewesen war, der für Celias Leiden verantwortlich war. Der sie krank gemacht hatte. Die Männer der Familie Ingram schienen den Frauen der Familie Brooks nicht gutzutun. Wie Wölfe und Schafe.

Der Zug der London, Brighton and South Coast Railway fuhr mit lautem Zischen und gellendem Pfeifen ein. Ein Bahnbediensteter öffnete die Tür zum Wartesaal, hustete geziert und verwies auf das Rauchverbot im Warteraum. Im Raucherabteil der ersten Klasse könne ich gern rauchen, setzte er mit einem Bückling hinzu, nachdem er meinen Fahrschein kontrolliert hatte. Ich nickte, gab ihm ein Trinkgeld und bestieg den Wagen im vorderen Teil des Zuges.