Während der etwa vierzigminütigen Fahrt, die von Epsom aus in großem Bogen über Leatherhead nach Dorking führte, dachte ich an Maureen Watson, die sich so rührend um Celia gekümmert hatte. Gerade so, als wäre das Mädchen ihre Schwester oder Freundin und nicht eine Dienstmagd. Und ich ertappte mich bei dem Gedanken, wie Miss Watson wohl auf der Bühne im People’s Palace aussehen mochte. Im knappen und durchscheinenden Trikot. Am gestrigen Abend war sie direkt nach der Vorstellung im Bühnenkostüm und mit vollem Make-up nach Hause geeilt und hatte lange meine Hand geschüttelt, als wollte sie mich festhalten. Ich hatte ihr in das bleich geschminkte Gesicht gestarrt, um nicht in ihr tiefes Dekolleté zu schauen, das unter dem Mantelkragen hervorlugte. Maureen Watson aus Blackburn, Lancashire, wie unschwer an ihrem nördlichen Tonfall zu erkennen war. Eine ausnehmend schöne Tingeltangel-Darstellerin in reizender Aufmachung. Noch vor wenigen Tagen hätte sie genau in mein Beuteschema gepasst und meinen Jagdinstinkt geweckt. Wölfe und Schafe! Doch es war nichts mehr wie vor wenigen Tagen. Ich war nicht mehr wie zuvor.
Um meine wirren Gedanken in eine andere Bahn zu lenken, griff ich nach den Ausgaben des Star, die Gray mir am Morgen vor dem Hatchett’s eilig in die Hand gedrückt hatte. »Für die Zugfahrt«, hatte er gemeint und überflüssigerweise hinzugesetzt: »Was zu lesen, Boss.«
Mein plötzliches Interesse für den Ripper und unsere gemeinsame Suche nach Zeitungsartikeln über die Ermordung der Elizabeth Stride schienen den Ehrgeiz des Jungen angestachelt zu haben. Sein Wunsch, mir zu Diensten zu sein, und sein eigenes Interesse an den mörderischen Vorfällen in Whitechapel hatten ihn zu einem alten Freund aus dem East End geführt, der den Star als Zeitungsjunge auf der Straße verkaufte. Dieser Freund, Eddie, hatte wiederum seinen Onkel gefragt, der als Packer in der Druckerei der Zeitung arbeitete, und so hatte der emsige Gray binnen weniger Tage mehrere Ausgaben des Star ergattert, in denen der Doppelmord des 30. September in aller Ausführlichkeit behandelt wurde.
Zwar hatte ich mittlerweile fast alles erfahren, was ich über den gewaltsamen Tod von Long Liz – und meinen bedauerlichen Anteil daran – hatte wissen wollen, doch die Lektüre über den unheimlichen Frauenmörder würde mich zumindest vorübergehend von dem ablenken, was mich derzeit beschäftigte und nicht zur Ruhe kommen ließ. Und so stöberte ich in den billigen Halfpenny-Blättern, die sich so auffallend von den seriösen Zeitungen unterschieden, die ich üblicherweise las. Weil der bestialische Mord an Catherine Eddowes um einiges schockierender war als der an Elizabeth Stride, handelten die Artikel zumeist von dem jüngsten Mord am Mitre Square. Waren die Schilderungen in der Times schon schwer zu verdauen gewesen, so weideten sich die Reporter des Star regelrecht am Blut der Ermordeten. Die Sensationsgier und perverse Faszination, die aus jeder Zeile sprachen, waren mir so zuwider, dass ich die Zeitungen rasch beiseitelegte.
»Lesen Sie das über den Ungarn, Boss!«, hatte Gray mir am Morgen mit auf den Weg gegeben und auf die Ausgabe des 1. Oktober gedeutet. »Eddies Onkel sagt, dass der Ungar alles gesehen hat, auch wenn ihm keiner glauben will.«
»Wem?«, hatte ich gefragt. »Eddies Onkel oder dem Ungarn?«
Gray hatte, wie üblich, den Witz nicht verstanden, mit den Schultern gezuckt und gesagt: »Lesen Sie selbst, Sir!«
Widerwillig griff ich nach der Zeitung, auch weil ich mich so vor den neugierigen Blicken eines mir gegenübersitzenden, stark übergewichtigen Mannes verstecken konnte, der völlig ungeniert auf mein verkrustetes Muttermal starrte und dessen offen stehender Mund befürchten ließ, dass er gleich ein Gespräch anfangen wollte.
Ich schlug die Zeitung auf und hielt sie mir schützend vors Gesicht. Es dauerte eine Weile, bis ich den entsprechenden Artikel gefunden hatte. Der Abschnitt, den Gray gemeint hatte, befand sich ganz unten auf der zweiten Seite und war in einen längeren Text über den Mord in der Berner Street eingebunden. Der Absatz begann mit den Worten: »Eine den Mord betreffende Information, die wichtig sein könnte, wurde gestern der Leman Street Polizei von einem Ungarn gegeben.« Dieser Ungar habe auf der Wache ausgesagt, er sei in der besagten Nacht um Viertel vor eins die Berner Street entlanggegangen und habe in der Durchfahrt, in der wenig später die Leiche der Ermordeten gefunden wurde, einen Mann und eine Frau stehen sehen. Der Mann habe getorkelt, als wäre er betrunken gewesen, und habe sich lautstark und handgreiflich mit der Frau gestritten. Der Ungar habe den Mann als eine gedrungene Erscheinung mit schwarzem Filzhut, dunkler Kleidung und einem buschigen Schnauzbart beschrieben.
Bei der Erwähnung des Schnauzbarts und der gedrungenen Gestalt fuhr mir ein Schreck in die Glieder. Sofort dachte ich an Michael Kidney, Elizabeths Freund und Zuhälter, dem ich in der Nacht vor ihrem Tod geholfen hatte, sie aus dem Frauenasyl zu locken. Und erneut kam mir die Aussage dieses Mannes vor dem Coroner in den Sinn. Laut Times hatte Kidney bei der gerichtlichen Untersuchung der Todesursache behauptet, seine Freundin mehrere Tage vor ihrem Tod zum letzten Mal gesehen zu haben.
»Gerald Blacksmith«, hörte ich den korpulenten Herrn gegenüber sagen.
»Bitte?« Ich nahm die Zeitung herunter und sah den Mann verwirrt an.
»Mein Name«, sagte er und paffte mir den Rauch seiner Zigarre ins Gesicht. »Sie sagten: Michael Kidney. Und ich sage: Gerald Blacksmith. Freut mich, Mr. Kidney.«
»Ganz meinerseits«, log ich, nahm die Zeitung aber rasch wieder hoch und vertiefte mich erneut in meine Lektüre. Die Aussage des Ungarn war mit der Beschreibung des schnauzbärtigen Mannes noch nicht beendet. Was nun folgte, ließ mich aufmerken, denn es widersprach allem, was ich bislang über die Morde des Rippers gelesen oder gehört hatte. Der Ungar habe aus Angst die Straßenseite gewechselt und von dort einen zweiten Mann gesehen, der vor einer Eckkneipe gestanden und den Mann mit dem Schnauzbart durch lautes Zurufen gewarnt habe. Dieser zweite Mann sei drohend auf den Ungarn zugetreten und habe ein Messer in der Hand gehalten. Daraufhin sei der Zeuge Hals über Kopf davongelaufen, ohne sich darum zu kümmern, was hinter seinem Rücken geschehen sei.
Ein zweiter Mann mit einem Messer. In keinem anderen Bericht, den ich über Jack the Ripper gelesen hatte, war von einem zweiten Mann die Rede gewesen. Der Frauenmörder war ein Einzeltäter, davon gingen sowohl die Ermittler als auch die Reporter von der Presse aus. Ein einzelner Wahnsinniger, der nachts im East End umherstreifte und seine Opfer nach dem Zufallsprinzip aussuchte. Und wieder kam mir in den Sinn, was ich bereits nach der Lektüre des Artikels in der Times gedacht hatte: Der Mord an Elizabeth Stride passte nicht ins Muster. Er passte nicht zum Ripper.
»Schlimme Sache«, sagte der Dicke. Offensichtlich las er die Rückseite meiner Zeitung. »Nicht zu fassen.«
»Der Ripper?«, fragte ich.
»Nein«, antwortete er und lachte wie über einen Witz. »Sollen die sich in London ruhig gegenseitig die Gurgel durchschneiden. Was kümmert’s mich. Ich meine die Kohlepreise. Soll kalt werden diesen Winter. Und Zugfahrten werden vermutlich auch wieder teurer.«
»Ja, wirklich schlimm«, sagte ich. »Bald werden wir uns nur noch die zweite Klasse leisten können.«
»Gott bewahre!«, rief Mr. Blacksmith und verschluckte sich am Pfeifenrauch.
Ich räusperte mich, wandte mich ab und überflog den Artikel erneut. Die Ausführungen über den namentlich nicht genannten Ungarn endeten mit dem etwas ungelenken Satz: »Die Wahrheit der Aussage des Mannes wird nicht völlig akzeptiert.« Leider wurde in dem Artikel nicht gesagt, warum dem Mann nicht geglaubt wurde. Weil er ein Ausländer war? Weil er womöglich in der Mordnacht betrunken gewesen war? Oder weil er etwas ausgesagt hatte, was der allseits vorgefassten Meinung widersprach? In dem Artikel über die gerichtliche Untersuchung wurde der geheimnisvolle Ungar jedenfalls nicht erwähnt. Offenbar hatte man es nicht für nötig befunden, ihn vorzuladen. Man hatte seine Erzählung dem Reich der Fantasie zugeordnet und auf seine Aussage vor dem Coroner verzichtet.