Выбрать главу

Wer weiß, vielleicht wäre er dort Michael Kidney begegnet und hätte in ihm den gedrungenen Mann mit dem Schnauzbart wiedererkannt. Und ihn als Lügner entlarvt. Oder Schlimmeres.

2

Es war kurz vor zehn Uhr, als ich, wie an jedem Donnerstag, den Bahnhofsvorplatz betrat. Der Bahnhof der Brighton-Linie befand sich am nördlichen Ende von Dorking und war vom Landsitz Bury Hill, der südwestlich der Stadt lag, mehr als drei Meilen entfernt. Normalerweise wartete immer eine Kutsche auf mich, um mich zum Landhaus der Barclays zu bringen, doch heute war davon nichts zu sehen. Kein Kutscher weit und breit. Da ich immer den gleichen Zug nahm und die Bahn heute keine Verspätung hatte, war ich etwas überrascht und stand ratlos in der Gegend herum. Wie so oft in den letzten Tagen hatte prasselnder Regen eingesetzt, der vom stürmischen Nordwind über das Pflaster gepeitscht wurde. Dummerweise hatte ich meinen Regenschirm vergessen.

Eine kleine Stichstraße führte von der London Road zum backsteinernen Bahnhof, der mit seinen zwei symmetrischen Holzgiebeln und dem Portal in der Mitte genauso aussah wie so viele Bahnhöfe, die in Surrey in den letzten Jahrzehnten wie Pilze aus dem Boden geschossen waren. Ein altmodisches und recht klobiges Cabriolet mit geschlossenem Verdeck näherte sich auf dem Kopfsteinpflaster und hielt direkt vor mir.

Ich wunderte mich über die sonderbare Kutsche, die so gar nicht zu den Barclays passen wollte. Auch der Kutscher irritierte mich, denn er war nicht livriert, sondern trug die schlichte Kleidung eines Landmannes oder Arbeiters. Ich fragte ihn: »Kommen Sie von Bury Hill?«

»Nein, Sir, Harelands Farm«, antwortete der Mann, schaute an mir vorbei und lüpfte plötzlich den ledernen Schlapphut.

»Der Wagen gehört zu mir«, hörte ich im selben Augenblick eine donnernde Stimme hinter mir. »Kann ich Sie mitnehmen, mein Guter? Bury Hill liegt beinahe auf dem Weg. Ist jedenfalls kein großer Umweg.«

Als ich mich umwandte, schaute ich in das jovial grinsende Gesicht des dickleibigen Mannes, der einladend auf sein vorsintflutliches Gefährt wies. Wie war doch gleich sein Name? Richtig, Blacksmith! Gerald Blacksmith.

»Vielen Dank, Mr. Blacksmith«, sagte ich. »Aber das wird nicht nötig sein. Vermutlich kommt meine Kutsche bald. Und wenn nicht, dann nehme ich mir eine Mietdroschke.«

»Sehen Sie irgendwo eine?«, lachte der Dicke und machte eine ausladende Geste mit seiner rechten Pranke. »Dorking ist nicht London, Mr. Kidney. Da steht nicht an jeder Ecke ein Mietwagen herum. Nicht einmal am Bahnhof, wie Sie sehen.«

Das war auffallend richtig, wie ich verwundert feststellte.

»Vor den Hotels in der High Street finden sie natürlich welche«, fuhr Blacksmith fort, spannte seinen Regenschirm auf und legte seinen Arm um meine Schulter. »Aber bis Sie dort sind, sind Sie klitschnass. Kommen Sie ruhig mit, Verehrtester. Es ist kein großer Umweg. Mein Hof ist nur eine halbe Meile von Bury Hill entfernt. Sind Sie ein Freund der Barclays? Oder ein Verwandter?«

»So was Ähnliches«, antwortete ich ausweichend, und im nächsten Moment saß ich im Fond des Cabriolets und starrte in das strahlende Gesicht des übergewichtigen Landherrn. Seine Augen funkelten neugierig, und sein Mund öffnete sich hoffnungsfroh. Und diesmal hatte ich keine schützende Zeitung zur Hand.

Während der knapp halbstündigen Fahrt mit der klapprigen Kutsche erfuhr ich allerlei Wissenswertes und noch mehr Unnützes über die Stadt Dorking, die Harelands Farm, das Gut der Familie Barclay, die Geschichte von Bury Hill und die Bewohner der Gegend. Mr. Blacksmith bildete sich eine Menge darauf ein, dass so viele angesehene Familien ihre Landsitze in der Umgebung von Dorking hatten, und er schien seine eigene Sippe ebenfalls zu diesen zu zählen. Sein Name verriet allerdings, dass sein Hof, der inmitten der waldigen Hügel von Harelands Woods lag, einstmals eine Schmiede gewesen war. Vermutlich hatte sie bis vor einigen Jahrzehnten zum Anwesen von Bury Hill gehört.

Über seine Nachbarn und ehemaligen Gutsherren wusste Mr. Blacksmith nur Gutes zu berichten. Ganz formidable Leute, wie er betonte. Nicht nur wegen des Bieres. Auch wenn sie natürlich Zugezogene seien und Bury Hill erst vor siebzig Jahren erworben hätten.

»Siebzig Jahre?«, wunderte ich mich. »Da kann man kaum noch von Zugezogenen sprechen, oder?«

Er schaute mich an, als hätte ich gerade etwas ausgesprochen Dummes gesagt. So dumm, dass es darauf nichts zu erwidern gab.

»Kennen Sie Miss Meredith und ihren Zukünftigen?«, fragte ich grinsend, als wir die Landstraße verließen und die breite und lang gezogene Auffahrt zum Gutshaus hinauffuhren.

»Meinen Sie ihren Cousin Frederick aus Guildford?«

»Nein, natürlich nicht«, wunderte ich mich. »Ich meine Mr. Ingram.«

»Kein Hiesiger«, lautete seine vernichtende Antwort.

»Nicht einmal ein Zugezogener«, setzte ich bestätigend hinzu und schaute durch das Fenster auf den See, der fast bis an das höher gelegene Herrenhaus heranreichte und mit seinen geschwungenen Buchten, weidenbestandenen Ufern und kreisrunden Inselchen ausgesprochen malerisch und idyllisch wirkte. Zu hübsch, um wahr zu sein. Der gekünstelte Traum eines Landschaftsarchitekten.

»Haben Sie vielen Dank, Mr. Blacksmith«, verabschiedete ich mich, stieg aus dem Cabriolet und wunderte mich, dass keiner der Bediensteten herauskam, um mich zu begrüßen und mit einem Regenschirm zum Haus zu geleiten.

»Meine Empfehlung an Mr. Barclay und seine verehrte Gemahlin«, antwortete er und streckte seinen massigen Kopf zum Fenster hinaus. »Stimmt es, dass sie wieder in anderen Umständen ist?«

Ich antwortete mit einem verlegenen Lächeln.

Er nickte wissend und sagte: »Eine ganz formidable Familie.« Damit zog er den Kopf zurück und ließ seinen Kutscher den Wagen wenden. »Cheerio, Mr. Kidney.«

Ich stieg die breite Freitreppe zum Eingang hinauf, doch noch immer kam mir kein Bediensteter entgegen. Die Frontseite des Hauses lag wie verlassen da, kein Mensch war auf dem Gelände zu sehen, was ich mir auch durch den strömenden Regen erklärte. Bei dem Wetter schickte man keinen Hund vor die Tür.

Es dauerte eine Weile, bis auf mein Klopfen hin geöffnet wurde, und als ich in triefender Kleidung die riesige Halle betrat, starrte mich der Hausdiener Joe an, als wäre ich ein Gespenst.

»Mr. Ingram?«, fragte er erstaunt.

»Wie er leibt und lebt«, antwortete ich verwirrt und reichte ihm meinen Mantel und meinen Hut. »Wie jeden Donnerstag. Leider war keine Kutsche am Bahnhof. Haben Sie mich vergessen?«

»Die Kutschen sind unterwegs«, antwortete er mit verkniffener Miene.

»Alle?«, wunderte ich mich.

»Ja, Sir«, sagte er und räusperte sich. »Alle.«

»Und wo sind sie?«

»Unterwegs.«

»Aha. Und wohin?«

»Sir?« Er zuckte mit den Schultern und kniff die Lippen zusammen.

»Und Mr. Barclay? Ist er etwa gar nicht in Bury Hill?«

»Doch. Das heißt, nein. Also nicht mehr.« Wieder zuckte er mit den Schultern, verneigte sich dann und deutete auf die Haushälterin, die in diesem Augenblick aus dem Salon in die Halle trat. »Fragen Sie besser Mrs. Garland, Sir.«

»Mr. Ingram?«, rief Mrs. Garland bei meinem Anblick erstaunt.