»Was ist denn heute los?«, entfuhr es mir. »Wo stecken denn alle?«
»Haben Sie das Telegramm nicht bekommen, Sir?«
»Ein Telegramm? Nein!«
»Oh, wie ärgerlich«, sagte sie und rang sichtlich um Fassung. »Miss Meredith ist unpässlich und kann heute leider niemanden empfangen.«
»Was hat sie denn?«, fragte ich besorgt und folgte der Haushälterin in den Salon. »Ist sie krank?«
»Nichts Ernsthaftes«, sagte sie und blickte dabei auf den Teppich, als studierte sie das orientalische Muster. »Nur eine Grippe. Kein Grund zur Sorge. Der Doktor hat ihr einige Tage Bettruhe verordnet.«
»Und deshalb sind sämtliche Kutschen unterwegs?«, wunderte ich mich. »Und Mr. Barclay ebenfalls?«
»Nein, deshalb natürlich nicht«, sagte sie, lachte übertrieben und bekam einen roten Kopf. »Wir wussten ja nicht, dass Sie heute kommen würden. Wir dachten, dass Sie das Telegramm rechtzeitig bekämen. Und deshalb …« Statt den Satz zu beenden, rang sie mit den Händen vor der Brust, lächelte verlegen und fragte: »Möchten Sie vielleicht Kaffee, Sir? Oder Tee?«
»Kaffee wäre mir sehr recht, Mrs. Garland«, antwortete ich und setzte mich in einen Ohrensessel. Während die Haushälterin nach einem Dienstmädchen klingelte und schließlich, da niemand auf das Klingeln reagierte, mit einer hastigen Entschuldigung den Salon verließ, dachte ich über die höchst merkwürdigen Umstände nach. Dass Meredith »unpässlich« war und ich das Telegramm nicht rechtzeitig erhalten hatte, mochte ein bedauernswerter Zufall sein, erklärte aber nicht, warum mich alle so panisch und gehetzt anstarrten. Und dabei zugleich jeden Augenkontakt mieden, als hätten sie Angst, unter meinem Blick zu versteinern.
Während ich noch meinen Gedanken nachhing, erschien ein Hausmädchen mit dem Kaffee und richtete aus, Mrs. Garland habe den Stallburschen in die Stadt geschickt, um eine Mietdroschke zu bestellen. Der nächste Zug nach Epsom gehe um Mittag, und wenn der Kutscher sich beeile, könne ich den Anschlusszug nach London ohne Probleme erreichen.
Sie wollten mich loswerden, und zwar so bald wie möglich, das war offensichtlich. Ich fragte das Mädchen nach Mrs. Barclay und erhielt als Antwort ein gewispertes: »Madame ruht.«
»Auch unpässlich?«
Es folgte ein erschrockenes: »Unpässlich? Ach so, unpässlich. Ja, leider, Sir! Die Droschke wird bald da sein.« Und im nächsten Moment war das Mädchen verschwunden. Sie hatte beinahe so ausgesehen, als müsste sie sich übergeben.
Statt den Kaffee zu trinken und im Salon auf die Mietkutsche zu warten, ging ich durch eine Flügeltür in die angrenzende Bibliothek. Auf dem Schreibtisch vor dem Fenster lagen verschiedene aufgeschlagene Bücher und Schriftstücke. Ein neuartiger und vermutlich sehr kostbarer Waterman-Füllfederhalter lag offen und achtlos hingeworfen auf einem Löschblatt, als wäre Mr. Barclay beim Schreiben unterbrochen oder vom Schreibtisch weggerufen worden. Ich nahm mir die Freiheit und las die letzten Worte, die er auf das zuoberst liegende Papier geschrieben hatte. Es handelte sich um eine geschäftliche Korrespondenz und endete mitten im Satz. »Wie Ihnen bekannt sein dürfte, haben Barclay und …«
In diesem Augenblick hörte ich hastige Schritte über mir. Eine Tür knallte. Und eine gedämpfte Frauenstimme rief mit französischem Akzent: »Robert, komm sofort zurück! Du ungezogener Bengel! Komm her! Auf der Stelle!« Dann folgten die trippelnden Schritte eines Kindes auf der Treppe in der Halle.
Über der Bibliothek befanden sich die Kinderzimmer, und die weibliche Stimme gehörte zu einer französischen Gouvernante namens Eugenie, die sich um die drei älteren Barclay-Sprösslinge kümmerte. Das jüngste Kind war noch ein Säugling und wurde von einer Amme aus der nahen Umgebung versorgt.
»Na warte!«, hörte ich Mademoiselle Eugenie im Obergeschoss rufen. »Wenn ich dich erwische, dann kannst du was erleben!«
Im nächsten Moment wurde die Tür zur Halle aufgerissen. Der kleine Robert rannte in die Bibliothek und direkt auf mich zu. Als er mich sah, erstarrte er, als wäre ich eine Erscheinung. Er rang kurz mit sich, überlegte angestrengt, ob er wieder zurück in die Halle laufen sollte, doch von dort näherte sich noch größeres Ungemach. Also bat er mich: »Nicht verraten!«
»Nur wenn du mir anschließend verrätst, was hier los ist«, konterte ich.
Sein Blick ging wie der eines gehetzten Tieres hin und her. Vor der Tür waren hastige Schritte zu hören. Deshalb nickte er schicksalsergeben.
Ich bedeutete ihm, sich hinter dem Schreibtisch zu verstecken, und beinahe im selben Augenblick erschien Mademoiselle Eugenie. Sie hatte die offen stehende Tür entdeckt und geglaubt, den entlaufenen Bengel in der Bibliothek zu finden. Entsprechend überrascht, nein entsetzt, war sie, als sie mich erblickte.
»Mr. Ingram!«, stieß sie voller Bestürzung hervor. »Mon Dieu!«
»Mademoiselle Eugenie!«, rief ich verwundert. »Was ist mit Ihnen?«
»Mit mir?«, erwiderte sie und fasste sich an die bis zum Kragen geschlossene Brust. »Nichts. Rien du tout. Gar nichts.« Sie lächelte gequält, räusperte sich und sagte: »Ich bin auf der Suche nach Master Robert. Haben Sie ihn zufällig gesehen, Monsieur?«
»Tut mir leid«, antwortete ich kopfschüttelnd.
Und ehe ich die Möglichkeit hatte, weiter in sie zu dringen, war sie mit einem knappen »Pardon!« und einem wenig damenhaften Türknallen aus dem Zimmer gerannt. Bereits die dritte Frau, die ich heute durch meine bloße Anwesenheit verschreckt und verscheucht hatte.
»So, und jetzt zu dir!«, wandte ich mich streng an den Jungen, dessen Kopf hinter der Schreibtischplatte auftauchte. »Was geht hier vor?«
»Ach, die dumme Kuh!«, rief Robert und machte einen Schmollmund. »Regt sich immer gleich so auf. Dabei war’s doch nur ein harmloser Spaß.«
»Ich rede nicht von Mademoiselle Eugenie«, antwortete ich und baute mich vor dem kleinen Robert auf. »Sondern von deiner Cousine Meredith.«
Der Schmollmund wurde zu einem schmalen Strich. Und seine Augen funkelten mich überlegen und beinahe verächtlich an. Wie sein jüngerer Bruder Thomas und seine Schwester Ellen war der gerade einmal achtjährige Robert ein verblüffendes Abbild seines Vaters, und vermutlich würde aus ihm ein ebenso erfolgreicher Geschäftsmann werden. Schon jetzt war jedenfalls ersichtlich, dass aus dem kleinen Rotzlöffel ein ähnlich selbstgefälliger Aufschneider wie sein Vater werden würde. Robert junior war ein Naseweis und Neunmalklug, wie man ihn in seinem Alter nur selten erlebte. Er war seit frühester Kindheit mit der Gewissheit aufgewachsen, der Nachfolger des Seniors zu sein, und das merkte man dem Bengel an. Mit überheblicher Miene meinte er: »Tut mir leid, mein Lieber. Meredith ist nicht zu sprechen. Sie ist …«
»Soll ich Mademoiselle Eugenie holen?«, fragte ich und packte ihn am Schlafittchen. »Und ihr sagen, wie du sie gerade genannt hast? Das würde dir bestimmt noch viel mehr leidtun, mein Lieber!«
Das dünkelhafte Grinsen fiel ihm schlagartig aus dem Gesicht. Er wurde bleich und schüttelte den Kopf.
»Also?«, fragte ich und schüttelte ihn. »Was ist hier los? Wo ist dein Vater? Und was ist mit Meredith? Spuck’s aus, Robert!«
Hass sprühte aus seinen Augen. Mit unverkennbarer Genugtuung sagte er: »Meredith ist weg! Und zwar nicht allein.«
»Ist dein Vater bei ihr?«
»Vater ist hinter ihr her«, sagte Robert und grinste. »Und Bernard und James und alle anderen Dienstmänner auch. Um die beiden möglichst noch vor der Grenze zu erwischen.«
»Die beiden?« Allmählich begriff ich, worauf der Kleine mit seinen hämischen Worten abzielte. »Wer ist bei ihr?«, fragte ich, obwohl ich die Antwort zu kennen glaubte. »Nun red schon!«
»Cousin Frederick natürlich«, triumphierte Robert. »Sie sind getürmt! Heute Nacht.«
»Zur Grenze? Nach Schottland?«