»Wohin sonst?«
Wohin sonst! Ich musste mich schwer zusammenreißen, nicht laut aufzulachen oder in Jubel auszubrechen. Die ganze Zeit hatte ich mir das Hirn zermartert, wie ich das Damoklesschwert der Heirat abwehren und mich aus Merediths ehelichen Fängen und Mr. Barclays geschäftlichen Verpflichtungen befreien könnte. Und zur selben Zeit hatte die gute Meredith nichts anderes im Sinn gehabt, als mich irgendwie loszuwerden. Doch während ich nicht den Mumm gehabt hatte, meinem Vater und den Barclays reinen Wein einzuschenken und den ganzen Unfug abzublasen, war Meredith mit ihrem Liebsten in einer Nacht-und-Nebel-Aktion geflohen. Um in Schottland zu heiraten. Auf Gedeih und Verderb. Ohne Rücksicht auf Verluste.
Meinen Segen hatten sie!
Gutes altes Schottland! Wo man Minderjährigen nach wie vor erlaubte, ohne Einwilligung der Eltern oder große Zeremonien zu heiraten! Zwar hatte man, soviel ich wusste, vor einigen Jahren die uralten Gesetze verschärft und es zur Bedingung gemacht, dass die Heiratswilligen sich zuvor einundzwanzig Tage in Schottland aufgehalten haben mussten, doch es war durchaus möglich, sich drei Wochen irgendwo auf dem Land vor den elterlichen Verfolgern zu verstecken, um dann auch gegen ihren Willen den Bund der Ehe einzugehen. Nicht einmal einen Priester oder Beamten brauchte man dafür, sondern lediglich zwei Zeugen, vor denen man gemeinsam das Ehegelübde ablegte. Und genau das hatten die beiden offensichtlich vor. Falls Mr. Barclay sie nicht vorher aufspürte und nach England zurückschaffte.
»Woher weißt du, dass Cousin Frederick bei ihr ist?«, wollte ich wissen und versuchte dreinzuschauen, als wäre gerade meine Welt in sich zusammengebrochen. »Hat Meredith eine Nachricht hinterlassen?«
Robert nickte und grinste.
»Dieser Schuft!«, rief ich und versuchte, dabei niedergeschlagen und wütend zu klingen. »Dieser elende Schurke!«
»Tja, Pech gehabt!«, rief Robert und lachte schadenfroh.
Was für eine launenhafte Fügung des Schicksals! Ich war frei! Alle Unterschriften und mündlichen Verabredungen waren nichtig. Der Heiratstermin war hinfällig. Der drohende Umzug nach Southwark war abgewendet. Denn unabhängig davon, ob Meredith und Frederick tatsächlich heirateten oder vorher von Mr. Barclay gefunden wurden, niemand konnte nun noch von mir verlangen, Miss Wright Barclay zu ehelichen. Weil ein Telegramm wie durch einen Wink des Schicksals auf dem Weg von Dorking nach London verloren gegangen war, wusste ich jetzt Bescheid. Niemand konnte mich mehr für dumm verkaufen, wie es das bedauernswerte Dienstpersonal heute Morgen in Bury Hill hatte versuchen müssen. Jetzt musste ich nur noch dafür sorgen, dass alle Anwesenden mitbekamen, dass ich von dem Skandal und meiner vermeintlichen Schande wusste.
Als ich die Schritte der immer noch nach Robert suchenden Französin in der Halle hörte, fuhr ich den unverändert grienenden Jungen übertrieben laut an: »Was gibt’s denn da zu lachen, du Rotzlöffel?«
Robert fuhr erschrocken zusammen. Im nächsten Augenblick schon stand Mademoiselle Eugenie im Raum und starrte uns entgeistert an. »Qu’est-ce qui s’est passé?«, fragte sie mit erhobenem Zeigefinger. Doch die Frage und der drohende Finger galten nicht mir, sondern dem kleinen Robert, der sich wieder hinter dem Schreibtisch versteckt hatte, als könnte er sich dadurch in Luft auflösen.
Fast gleichzeitig erschien Mrs. Garland in der Tür zum Salon, um mir mitzuteilen, dass die Droschke aus Dorking vorgefahren sei. Verdutzt hielt sie inne. Ihr Blick ging von Mademoiselle Eugenie zu Robert junior und landete schließlich bei mir.
»Sie wissen von Meredith?«, fragte sie atemlos.
»Ich weiß alles«, antwortete ich nickend, nahm Joe, der ebenfalls die Ankunft der Mietkutsche melden wollte, meinen Mantel und Hut ab und verließ erhobenen Hauptes das Herrenhaus, um es hoffentlich niemals wieder zu betreten.
3
Drei Nachrichten warteten in London auf mich. An der Rezeption des Hatchett’s wurde mir vom Portier ein Telegramm überreicht, das am Morgen, kurz nach meiner Abreise, überbracht worden war und in dem Mr. Barclay mir Merediths ebenso bedauerliche wie kurzfristige Erkrankung mitteilte. Kurz darauf hielt mir mein Bruder Mortimer ein von einem Boten überbrachtes Schreiben mit dem Stempel der Heilsarmee vor die Nase und gab mir mit einem Augenzwinkern zu verstehen, dass William ihn bereits von meinen neuesten amourösen Eskapaden unterrichtet habe. »Soll ja sehr schön sein, die Dame«, setzte er kichernd hinzu. »Und ein Captain obendrein.«
»Es gibt keine amourösen Eskapaden«, korrigierte ich ihn.
»Das hat William auch gemeint«, antwortete Mortimer vergnügt. »Er ist übrigens fuchsteufelswild, weil du den Termin mit dem deutschen Botschafter vergessen hast. Du solltest ihn am Dienstagabend im Deutschen Athenaeum treffen.«
»Ich habe den Botschafter nicht vergessen, sondern absichtsvoll ignoriert«, sagte ich und öffnete den Brief. »Ich war anderweitig beschäftigt.«
»Lass das nicht deine Verlobte hören, du Schürzenjäger.«
»Halt die Klappe, Mortimer!«, fuhr ich ihn an und warf ihm einen bösen Blick zu. »Übrigens ist sie nicht mehr meine Verlobte.«
»Was meinst du damit?«
»Meredith ist gerade auf dem Weg nach Schottland, um ihren Cousin zu heiraten.« Da er mich fassungslos anstarrte, setzte ich ihn über die Ereignisse in Bury Hill in Kenntnis und fügte genüsslich hinzu: »Ich befürchte, du musst deine Kaffeehauspläne endgültig zu den Akten legen, Bruderherz! Oder ihr müsst mich mit der kleinen Ellen Barclay verkuppeln. Die ist allerdings erst sechs Jahre alt. Musst dich also noch ein wenig gedulden. So jung darf man nicht einmal in Schottland heiraten.«
Damit ließ ich ihn stehen, ging auf mein Zimmer und überflog die wenigen handgeschriebenen Zeilen, die mit »Captain Eva Cory Booth« unterzeichnet waren. Darin bat sie mich in knappen Worten um eine Unterredung am Nachmittag. Sie sei den ganzen Tag im Hauptquartier und würde es zu schätzen wissen, wenn es sich einrichten ließe. Worüber sie mit mir sprechen wollte, ließ sie unerwähnt, doch in einem Nebensatz wies sie darauf hin, dass sie mich gern mit ihrem Vater, dem General, bekannt machen wolle, der heute ebenfalls in der Queen Victoria Street zugegen sei. Ob dies als Ehre oder Drohung gemeint war, blieb mir unergründlich. Ich nahm mir vor, es umgehend herauszufinden, tauschte den feinen Gehrock gegen schlichte Straßenkleidung ein und ging hinunter.
Auf dem Weg nach draußen fragte ich den alten Hauptportier Bellamy, ob es Neuigkeiten von meinem Vater gebe, doch er verneinte und wiederholte lediglich, was er mir bereits gestern gesagt hatte: »Am Abend ist Ihr Herr Vater wieder in der Stadt, Master Rupert.«
Master Rupert! So war ich zuletzt als rotznäsiger Bengel in kurzen Hosen genannt worden. Kopfschüttelnd und schmunzelnd verließ ich das Hatchett’s und stieß auf dem Gehweg beinahe mit Gray zusammen, der gerade vom Crown Hotel kam und mir die dritte Nachricht nach meiner Rückkehr aus Surrey überbrachte.
»Der Verrückte war wieder da!«, rief er und lüpfte die Mütze. »Der Boss hat ihn im Durchgang zum Hof entdeckt und hochkant rausgeworfen. Da bin ich ihm auf die Straße nach und hab ihn mir vorgeknöpft, den Verrückten.«
»Was wollte Simeon?«, fragte ich. »War er wieder betrunken?«
Gray schüttelte den Kopf und sagte: »Glaub nicht. Jedenfalls hat er nicht so bestialisch gestunken wie beim letzten Mal. Und auch nicht so gelallt. Aber genauso wirres Zeug geredet.« Er schmunzelte bei der Erinnerung daran und meinte: »Er hat behauptet, er wär in Spitalfields ’nem anderen Verrückten begegnet und der hätte ihm mitten in der Nacht im Bett aufgelauert und ihm einen Schlag verpasst. Darum hätte er Reißaus genommen.«
»Was soll der Unfug?«, fragte ich, unschlüssig, was ich von Grays Ausführungen halten sollte.
»Das hab ich ihn auch gefragt«, antwortete Gray nickend, »aber er hat drauf bestanden, dass es genauso gewesen sei und dass ich es Ihnen ausrichten soll, sobald Sie wieder da sind. Er wär jetzt wieder in St. Giles, hat er gesagt, weil’s ihm in Spitalfields zu gefährlich ist.«