»Sie haben ihn also im Arbeitshaus wieder aufgenommen?«, fragte ich.
»So hat er’s gesagt, Boss. Und dass Sie sich vorsehen und unbedingt Miller’s Court meiden sollen! Weil sie einem da in der Nacht auflauern.«
»Bist du sicher, dass er nicht betrunken war?«, wunderte ich mich.
»Lässt sich bei Säufern natürlich schwer einschätzen«, antwortete Gray fachkundig und schob die Unterlippe vor. »Meinem Alten hat man’s auch nicht angesehen. Erst wenn er einen verdroschen hat, wusste man, dass er was intus hatte. Aber dann war’s immer schon zu spät.«
Ich schaute auf die Uhr. Es war inzwischen kurz nach vier am Nachmittag. Mein Vater würde noch einige Stunden unterwegs sein. Maureen Watson hatte ich gesagt, dass ich am Freitagmorgen wieder nach Celia schauen würde. Und meinem Bruder William wollte ich im Moment auch nicht unter die Augen treten. Also blieben Simeon Solomon oder Eva Booth!
Die Wahl fiel mir nicht schwer, auch weil die Gefahr, der Simeon angeblich ausgesetzt gewesen war, nach seiner Rückkehr ins Arbeitshaus von St. Giles nicht mehr bestand und ich zu gern gewusst hätte, was Miss Booth mit mir besprechen wollte. Nach unserer letzten Begegnung vor dem Gerichtsgebäude hatte ich nicht damit gerechnet, sie so bald wiederzusehen. Also winkte ich ein Hansom Cab heran, das gerade auf der Piccadilly in östlicher Richtung fuhr.
»Boss?«, hörte ich Gray hinter mir. »Mir ist noch was eingefallen.«
»Ja?«, sagte ich, während ich den Verschlag des Cabs öffnete.
»Es sind doch zehn.«
»Zehn?«, fragte ich und schaute ihn verwirrt an. »Wovon redest du?«
»Von den Glocken von Christ Church«, sagte er, als wäre das ganz selbstverständlich. »Von der fehlenden zehnten Glocke.«
Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, wovon er sprach. Ten Bells! Ich erinnerte mich dunkel an unser Gespräch in der Kneipe nahe der Guildhall und daran, dass Gray die Glocken der Kirche nachgezählt hatte: acht im Kirchturm und eine an der Tür.
»Und?«, fragte ich. »Was oder wo ist die zehnte Glocke?«
»Die Totenglocke«, sagte er mit ernster Miene. »Hab lange drüber nachgedacht. Es muss die Totenglocke sein.«
»Worüber du dir immer den Kopf zerbrichst«, lachte ich und stieg in den Wagen.
»Dachte, es interessiert Sie«, antwortete Gray enttäuscht.
»Danke, Gray, dass du es mir verraten hast«, sagte ich und lächelte ihm aufmunternd zu. »Darauf wäre ich niemals gekommen.«
»Ach, Boss!«, rief Gray und winkte bescheiden ab. »Glauben Sie mir, man muss nur lange genug nachdenken, dann fallen einem solche Sachen ein.«
4
Diesmal hatte ich keine Mühe, zu Miss Booth vorgelassen zu werden, und das lag nicht nur daran, dass meine Kleidung im Unterschied zum letzten Mal nicht zerrissen und verschmutzt war. Kaum hatte ich am Empfang meinen Namen genannt, schon wurde ich von einem jungen Heilssoldaten über mehrere Treppen und einen langen fensterlosen, aber mit allerlei Spruchbändern versehenen Gang zu einem Büro im dritten Stock des Hauptquartiers gebracht. Ein schlichtes Holzschild hing an der Tür, darauf stand: »Captain Eva Cory Booth. Field Commissioner«.
Eine ebenfalls uniformierte Sekretärin öffnete und geleitete mich in einen Nebenraum, an dem der Captain hinter einem Schreibtisch saß und ein bedrucktes Stück Papier mit handschriftlichen Notizen und Korrekturen versah.
»Wie schön, dass Sie Zeit für mich hatten, Mr. Ingram«, sagte Eva, bedachte mich mit einem Lächeln, wies auf einen Lehnstuhl vor dem Tisch und widmete sich dann wieder ihrem Text. »Setzen Sie sich bitte. Ich bin gleich so weit.«
»Eine Predigt?«, fragte ich und setzte mich.
»Wir predigen nicht«, antwortete sie, ohne aufzublicken. »Wir berichten den Menschen von Gottes Liebe und Gnade.«
»Das nenne ich eine Predigt«, antwortete ich schmunzelnd und widerstand nur mühsam dem reflexhaften Verlangen, mir eine Zigarette anzuzünden.
Zum ersten Mal sah ich Eva Booth ohne monströse Haube auf dem Kopf und konnte ihre rote Löwenmähne in ganzer Pracht bestaunen. Die Wunde an ihrer Stirn schien weitgehend verheilt, jedenfalls war unter dem Dickicht ihres Haars nichts davon zu sehen. Während sie schrieb, zog sie ihre Nase kraus und biss sich auf die Lippen. Es sah irgendwie ulkig aus.
An der Wand hinter dem Schreibtisch hing eine riesige Fahne mit dem Emblem der Heilsarmee. Das Wappen erschien mir fürchterlich überfrachtet und wirr. Mit einer Krone, einem Strahlenkranz, zwei Schwertern, einem Kreuz, einem S für Salvation, sieben Punkten, die ich mir nicht erklären konnte, und der Inschrift »Blut und Feuer« wirkte das Ganze auf mich wie ein konfuses Sammelsurium von bunten Insignien und Symbolen. Zu viel des Guten!
Schließlich hatte Eva ihre Notizen beendet, stand auf, kam um den Tisch herum und gab mir die Hand. »Guten Tag, Mr. Ingram«, sagte sie strahlend. »Ich freue mich, Sie zu sehen. Willkommen bei der Heilsarmee!«
»Ich hoffe, dies soll kein Anwerbungsgespräch werden.«
»Seien Sie unbesorgt«, antwortete sie lächelnd und zugleich ein wenig lauernd. »Wir zwingen niemanden zu seinem Glück. Gottes Gnade offenbart sich …«
»Was genau ist eigentlich ein Field Commissioner?«, unterbrach ich sie unhöflich, bevor sie in ihren üblichen und einstudierten Sermon verfallen konnte.
»Eine Art Feldkommissar«, antwortete sie und setzte sich auf einen zweiten Lehnstuhl, den sie dicht neben meinen gerückt hatte. »Ein Beauftragter für den Kampfschauplatz oder Krisenherd, wenn Sie so wollen.«
»So etwas wie ein Feuerwehrmann?«, fragte ich. »Sie kommen, wenn’s brennt?«
»Ja, so in etwa, Mr. Ingram«, lachte sie und strich sich die Uniform glatt. Zwei Sterne und ein großes S prangten auf den Epauletten an ihren Schultern. »Und es brennt an vielen Stellen in diesem Land. Und auf der ganzen Welt. Die Sünde und das Laster …«
»Warum wollten Sie mich sprechen, Eva?«, fiel ich ihr erneut ins Wort.
Diesmal reagierte sie nicht pikiert, weil ich sie allzu vertraulich mit dem Vornamen angesprochen hatte, sondern nickte ernst und sagte: »Um mich bei Ihnen zu entschuldigen.«
»Warum?«, wunderte ich mich. »Dafür gibt es überhaupt keinen Grund. Ganz im Gegenteil bin ich es, der Ihnen zu Dank verpflichtet ist. Wenn Sie nicht gewesen wären und sich für mich eingesetzt hätten …«
»Ich rede nicht von der Verhandlung«, schnitt sie mir nun das Wort ab und machte eine ungeduldige Geste mit der Hand. »Ich habe mit dem General über Sie gesprochen, und er hat mir sehr ernsthaft ins Gewissen geredet.«
»Sie nennen Ihren Vater General?«
»Gewiss doch«, antwortete sie und machte eine verständnislose Miene. »Er ist schließlich der General. Unser aller General im Krieg gegen die Sünde und für die Errettung der Seelen.«
»Verstehe«, sagte ich und musste an das Gerücht denken, von dem Simeon mir vor einigen Tagen erzählt hatte: dass Eva Booth ihrem Vater hoch und heilig hatte versprechen müssen, niemals zu heiraten. Ich hatte bislang bezweifelt, dass an dem dummen Gerede irgendetwas dran sein könnte, doch als ich den ernsten, fast feierlichen Ausdruck in Evas Gesicht sah, konnte ich mir plötzlich sehr gut vorstellen, dass er nicht völlig aus der Luft gegriffen war. Eva Booth war eine gehorsame Tochter. Nein, eine gehorsame Soldatin.
»Wofür wollen Sie sich entschuldigen, Eva?«
»Es war nicht recht, Sie zu ohrfeigen und einen Satan zu nennen. Das war falsch und unangebracht.« Sie wirkte regelrecht zerknirscht und schien unter der von ihr begangenen Verfehlung ernsthaft zu leiden. Jedenfalls tat sie alles, um diesen Eindruck zu erwecken. Sie griff sich an die Brust und setzte hinzu: »Ich bitte Sie daher aufrichtig um Verzeihung.«