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»Das ist nicht nötig«, antwortete ich verwirrt und hob abwehrend die Hand. »Sie hatten ja recht, mich einen Satan zu nennen. Mich hat damals tatsächlich der Teufel geritten. Und die Ohrfeige hatte ich mehr als verdient. Sie wissen gar nicht, wie sehr ich diese Backpfeife nötig hatte.«

»›Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe als Erster einen Stein‹, spricht der Herr«, sagte sie kopfschüttelnd. »Was ich Ihnen vorgeworfen habe, das hätte ich mir selbst vorwerfen müssen. Das hätten wir uns vorwerfen müssen.« Sie erhob sich und ging vor mir auf und ab, ohne mich dabei anzusehen. »Wir haben alle versagt und Schuld auf uns geladen. Wir haben Blut an unseren Händen.«

Allmählich glaubte ich zu verstehen, worauf sie hinauswollte. Sie redete von Elizabeth Stride. Von der »gefallenen Frau«, wie Eva sie einmal genannt hatte, die sich in die Obhut der Heilsarmee begeben hatte, aber dennoch nicht gerettet worden war. Die an Gott geglaubt und auf schwesterliche Hilfe gehofft, aber keine Gnade erfahren hatte. Weil man sie, als es darauf ankam, im Stich gelassen hatte. So schien es zumindest Eva Booth zu sehen.

»Was hätten Sie tun können?«, fragte ich, stand ebenfalls auf und stellte mich ihr in den Weg. »Elizabeth festbinden? Sie mit Gewalt zu ihrem Glück zwingen?«

»Sie wollen mein Gewissen beruhigen«, antwortete sie mit einem milden Lächeln. »Das ehrt Sie, doch ich weiß sehr wohl, dass ich gefehlt habe. An der armen Elizabeth, aber auch an Ihnen, denn ich wollte meine Schuld auf Sie abwälzen.«

»Übertreiben Sie jetzt nicht ein wenig?« Ich wusste, dass sie ihre Worte bitterernst meinte und vermutlich von Herzen fühlte, aber es hörte sich dennoch überzogen und allzu theatralisch an.

»Keineswegs!«, rief sie und schüttelte entschieden den Kopf. »Wir haben gefehlt, waren aber anschließend nicht mutig und ehrlich genug, zu unseren Fehlern zu stehen. Was das Ganze nur noch schlimmer macht.«

»Ist das der Grund, warum Sie nicht vor dem Coroner ausgesagt haben?«

Sie schaute mich überrascht an.

»Ich habe in der Zeitung über den Fall gelesen«, erklärte ich und stellte die Frage, die mir bereits seit einiger Zeit im Kopf herumging. »Nirgendwo war zu lesen, dass Elizabeth Stride im Frauenasyl der Heilsarmee gewohnt hat. Wieso waren Sie nicht bei der Anhörung?«

»Ich habe Ihnen doch gesagt, dass Elizabeth sich uns mit ihrem Mädchennamen vorgestellt hat. Gustafsdotter. Dass sie die Ermordete war, haben wir erst im Nachhinein erfahren.«

»Warum haben Sie später keine Aussage bei der Polizei gemacht?«

Eva zögerte und presste die Lippen aufeinander. Dann sagte sie sehr leise: »Florence meinte, es würde ohnehin nichts ändern. Niemandem sei damit gedient. Es würde das Geschehene nicht ungeschehen machen.«

»Florence?« Der Name kam mir bekannt vor, doch ich konnte ihn nicht auf Anhieb einordnen.

»Meine Schwägerin«, antwortete sie und wich meinem Blick aus. »Sie leitet das Heim in der Hanbury Street. Florence und die anderen Schwestern waren der Ansicht, dass es die Ermittlungen nur vom Wesentlichen ablenken würde.«

»Sollte man solche Schlussfolgerungen nicht lieber der Polizei überlassen?«, fragte ich und merkte, dass ich recht scharf im Ton geworden war. »Woher wollen Sie wissen, was wesentlich oder unwesentlich ist?«

Sie nickte, schaute mich beschämt an und sagte: »Das stimmt natürlich.« Diesmal wirkte die Selbstanklage nicht theatralisch, sondern kleinlaut.

»Sie hatten Angst, Ihr Frauenheim könnte in schlechtem Licht dastehen«, vermutete ich, »weil es Ihnen trotz der vielen schönen Worte von Heil und Rettung nicht gelungen ist, die arme Elizabeth vor dem Bösen zu schützen, nicht wahr?«

Ihre hübschen dunklen Augen funkelten mich an, und plötzlich brach es aus ihr heraus: »Wer gibt Ihnen das Recht, in diesem Ton mit mir zu sprechen? Und meinen Glauben in den Dreck zu ziehen?« Für einen kurzen Moment erinnerte mich ihr Blick an den Ausdruck in ihrem Gesicht, als sie mich vor dem Ten Bells geohrfeigt hatte. »Ausgerechnet Sie! Haben Sie vergessen, dass Sie es waren, der Elizabeth mit Alkohol und Geld aus dem Heim gelockt und in ihr Verderben gestürzt hat? Sie und Ihr widerlicher Freund! Ausgerechnet Sie spielen sich jetzt als Ankläger auf? Was erlauben Sie sich, Mr. Ingram!«

Wir standen uns direkt und so nahe gegenüber, dass meine Nasenspitze beinahe ihre Stirn berührte. Ihr Haar roch nach Rosenwasser, was mich zugleich wunderte und auf kindische Weise freute. Als hätte sie das Duftwasser nur meinetwegen aufgetragen. Gern hätte ich es angefasst, doch ich traute mich nicht. »Es tut mir leid, Eva«, sagte ich und biss mir auf die Unterlippe. »Es tut mir alles so fürchterlich leid.«

Sie hob die Hand, doch statt mich zu ohrfeigen, wie ich für einen kurzen Moment befürchtet hatte, strich sie zärtlich über meine Wange, berührte mit dem Daumen mein Kinn und sagte: »Ich weiß, Rupert.«

Ich konnte nicht anders. Es überkam mich wie ein Zwang, gegen den ich mich nicht wehren konnte. Ich küsste sie. Auf den Mund. Nur kurz und kaum spürbar. Der Hauch eines Kusses.

Sie zuckte wie unter einem Peitschenschlag zusammen und legte rasch ihre Hand auf meine Lippen, ohne sich dabei jedoch von mir zu entfernen oder den Blick abzuwenden. »Warum haben Sie das getan?«, fragte sie.

»Weil mir danach war.«

»Nicht«, sagte sie und wiegte den Kopf hin und her. »Tun Sie das nicht!«

»Warum nicht?«

»Weil ich Sie darum bitte«, sagte sie und machte einen Schritt zurück. Sie hob abwehrend die Hand und setzte mit ernster Miene hinzu: »Glauben Sie mir, es gibt tausend Gründe, warum Sie nichts Derartiges versuchen sollten, Rupert. Oder haben Sie vergessen, dass Sie verlobt sind?«

»Nicht mehr. Meine ehemalige Verlobte folgt ihrem Herzen und heiratet einen anderen. Ich wünsche ihr alles Glück der Welt.«

»Oh«, sagte sie und senkte den Blick. Es hatte beinahe den Anschein, als wüsste sie nicht, ob sie mich deswegen bemitleiden oder beglückwünschen sollte. Dann schaute sie mir plötzlich fest in die Augen und sagte: »Trotzdem! Das ändert nichts. Ich bin eine Offizierin der Heilsarmee, und als solche darf ich mich nur mit einem Offizier der Heilsarmee liieren, wie Sie vielleicht wissen.«

Das wusste ich nicht, deshalb schüttelte ich überrascht den Kopf.

»Es gibt so viel, das Sie nicht wissen und vermutlich niemals verstehen werden«, sagte sie und nickte, als freute sie sich regelrecht über meine Unwissenheit. »Sie haben keine Ahnung, wer ich wirklich bin und was ich fühle. Oder eben nicht fühle. Sie kennen mich überhaupt nicht.«

»Das ließe sich ändern, oder?«

»Nein!«, erwiderte sie und fuhr sich unwirsch mit der Hand über die Lippen. »Wir leben in unterschiedlichen Welten, Rupert. Selbst wenn ich die Gefühle erwidern würde, die Sie offenbar für mich empfinden oder zu empfinden glauben, wäre eine mehr als nur freundschaftliche Verbindung zwischen uns völlig undenkbar.« Und als müsste sie es sich selbst noch einmal bestätigen, wiederholte sie die letzten Worte: »Völlig undenkbar!«

»Warum haben Sie mich hergebeten?«, wiederholte ich meine anfängliche Frage. »Wieso wollten Sie mich sehen?«

»Das sagte ich bereits«, antwortete sie und schaute mich unsicher an. »Um mich bei Ihnen zu entschuldigen.«

Ich schnaufte ungläubig und schüttelte den Kopf.

»Sehen Sie, genau das meinte ich!«, rief sie und verdrehte ihre Augen wie über einen dummen Schüler, der sich weigert, seine Lektion zu begreifen. »Sie wollen nicht verstehen, und deshalb verstehen Sie nicht.«

»Oh, doch!«, antwortete ich und schaute ihr direkt in die Augen. »Ich verstehe sehr wohl.«

»Nein, das tun Sie nicht, Rupert!«, beharrte sie wie ein trotziges Kind und starrte zurück. »Sie begreifen gar nichts!«

Dann schwiegen wir und maßen uns mit Blicken.