»Das kann ich mir auch nicht erklären«, sagte Major Pringle, der das Pferd angebunden hatte und neben der Kutsche stand. »Der Bruder war schon seit einigen Tagen sehr merkwürdig und aggressiv. Immer wieder hat er Streit gesucht und sich ganz ungehörig benommen. Als ich ihn heute gefunden habe, lag er vor dem George Inn in der Gosse und hat kein vernünftiges Wort mehr herausgebracht. Der Wirt der Kneipe hatte mich benachrichtigen lassen.«
»Was ist das für eine traurige Geschichte, die Sie vorhin erwähnten?«, wollte ich wissen.
»Er hat seine Frau und seinen Sohn verloren«, sagte der Major und fuhr sich durch den grauen Bart. »Sie sind bei der Geburt des Kindes gestorben. Und er war offenbar nicht ganz unschuldig am Tod der beiden.«
»Wie das?«, wunderte ich mich.
»Sie haben sich gestritten. Seine Frau war eine ebenso große Trinkerin wie er, ständig haben sie sich in den Haaren gelegen. Doch diesmal mit bösen Folgen. Keiner weiß genau, was passiert ist, auch Adam konnte sich später an nichts erinnern. Aber als er wieder bei Sinnen war, hatte seine Frau eine Fehlgeburt erlitten, an deren Folgen sie verstarb. Adam hat darüber beinahe den Verstand verloren, denn obwohl sie sich gegenseitig das Leben zur Hölle gemacht haben, hat Adam seine Emma sehr geliebt. Das vermute ich jedenfalls.«
»Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf«, sagte ich und deutete auf den schnarchenden jungen Mann. »Und manchmal auch sich selbst.«
»Was soll mit ihm geschehen?«, fragte Major Pringle.
»Wir bringen ihn in den Schlafsaal im Keller, dort kann er erst einmal seinen Rausch ausschlafen«, antwortete Eva und bedeutete zwei Salutisten, die aus einem Seitengebäude den Hof betraten, ihnen zu Hilfe zu kommen. »Sobald er wieder bei Besinnung ist, werde ich mit ihm reden und ihn in eines der Heime für Männer bringen lassen. Dort wird man sich um ihn kümmern.« Sie wandte sich zu mir um und setzte traurig lächelnd hinzu: »Ich werde versuchen, den Wolf wieder zu einem Menschen zu machen. Mit Gottes Hilfe und menschlicher Zuwendung wird der Bruder auf den rechten Weg zurückfinden.«
»Haben Sie niemals Zweifel an dem, was Sie tun, Eva?«, fragte ich und sah zu, wie der betrunkene Adam von Major Pringle und den beiden Heilsarmisten an Händen und Füßen ins Haus geschleppt wurde. »Zweifel, ob sich all das lohnt?«
»Es lohnt sich!«, gab sie mir zur Antwort und nickte eifrig. »Glauben Sie mir, Rupert, Bedenken sind nicht angebracht.«
»Sie sind wirklich erstaunlich!«, entfuhr es mir. Und ich begriff, dass es vor allem dieses unerschütterliche Vertrauen ins eigene Tun und Denken war, das mich an Eva Booth vom ersten Moment an fasziniert hatte. Vielleicht weil ich selbst so wenig davon besaß und mit allem und nicht zuletzt mit mir selbst ständig haderte. Anders als ich wusste Eva genau, was sie wollte und wie sie es zu erreichen gedachte. Das war zugleich beeindruckend und beängstigend. Und deshalb fügte ich kopfschüttelnd hinzu: »Erstaunlich und unheimlich.«
Sie lachte erschrocken auf, drückte zum Abschied meine Hand und sagte: »Entschuldigen Sie mich, Rupert. Ich werde gebraucht.« Doch plötzlich hielt sie inne, kam mir ganz nahe, gab mir einen Kuss auf die Wange und sagte: »Seien Sie gut, mein Freund!«
Ich nickte und sagte: »Ay, Captain!«
5
Beim Abendessen wurde wenig gesprochen. Vater war noch nicht wieder zurück, und Mortimer hatte so üble Laune, dass ihm außer knurrigen Halbsätzen und einigen Floskeln kaum etwas entschlüpfte. William hatte sich entschuldigen lassen und geschäftliche Verpflichtungen vorgeschoben, obwohl wir anderen ahnten, dass er bei seiner niedlichen Schneiderin in der Bond Street war und sich den Feierabend versüßen ließ. Seine Frau Betty hatte es vorgezogen, allein im Crown Hotel zu essen. Mortimer sprach mich nicht auf die anstößigen Ereignisse des Tages an, und auch seine Frau Deborah, der die Neugier förmlich aus den Augen quoll, wagte es nicht, das heikle Thema anzuschneiden. Auf ihre mit bedeutsamem Augenaufschlag vorgetragenen Fragen, wie es mir gehe und ob alles in Ordnung sei, antwortete ich einsilbig mit »Gut« und »Ja« und amüsierte mich heimlich über ihre sichtlich enttäuschte Miene. Aus Andeutungen ihrerseits schloss ich, dass im Laufe des Tages mehrere Telegramme und Anrufe von Mr. Barclay und meinem Vater eingegangen waren, doch Mortimer unterband jede weitere Unterhaltung, indem er mürrisch zischte: »Das hat Zeit bis später. Wenn Vater da ist. Sein Zug kommt gegen neun in der Liverpool Street an.«
»Liverpool Street?«, wunderte ich mich. »Bellamy sagte doch, Vater sei an der Südküste. Von der Liverpool Street fahren keine Züge nach Süden, sondern nach Osten. Bist du sicher?«
»Im Telegramm hieß es: ›Liverpool Street‹«, knurrte Mortimer.
»Von wo kam das Telegramm?«
»Colchester, glaube ich«, sagte er achselzuckend.
»Colchester in Essex?«
»Kennst du ein anderes?«, antwortete er und schnitt übellaunig einen Streifen von seinem blutigen Roastbeef.
Ich schüttelte den Kopf, stand auf, entschuldigte mich und ging auf mein Zimmer. Um mich hinzulegen und in aller Ruhe nachzudenken. Und mir die richtigen Fragen zu überlegen.
Als es an der Tür klopfte, fuhr ich auf der Chaiselongue hoch und stellte bei einem Blick auf meine Taschenuhr fest, dass ich zwischenzeitlich eingeschlafen war. Es war kurz vor zehn, und der Etagendiener teilte mir mit, dass mein Vater und meine beiden Brüder im Raucherzimmer auf mich warteten.
Aus einer Waschschüssel neben der Liege spritzte ich mir etwas Wasser ins Gesicht, kramte aus einer Ledermappe die braune Papiertüte mit dem Stempel der Gebrüder Taylor hervor und ging über den Flur. Obwohl sich sämtliche Vorzeichen seit meinem letzten Gespräch mit meinem Vater grundlegend verändert hatten, war ich fürchterlich aufgeregt. Gerade so, als ob ich etwas zu befürchten hätte.
Mein Vater erwartete mich bereits in der Tür. Er nickte mir mit einem ernsten Blick zu, sagte aber keinen Ton, sondern wies ins Zimmer, wo Mortimer und William mit glimmenden Zigarren und nachdenklichen Mienen am Rauchertisch saßen und gleichfalls schwiegen. Erst als die Tür hinter mir geschlossen war, murmelte Vater: »Ich weiß bereits über alles Bescheid, mein Junge.«
»Worüber?«, fragte ich und widerstand dem Impuls, mir eine Zigarette anzuzünden. »Redest du von den Barclays?«
»Wovon sonst?«, knurrte er mich an und zupfte nervös an seinem Bart. »Mortimer hat mir alles erzählt. Außerdem hat Barclay mehrere Telegramme geschickt. Und ein Bote kam vorhin mit einem Schreiben seines Anwalts. Hab’s gerade gelesen. Mein Gott, ist denn so was zu fassen!«
»War’s schön in Essex?«, unterbrach ich ihn.
»Was redest du denn da, Junge?« Seine Augen funkelten mich wütend an. »Es geht jetzt nicht um Essex, sondern um dich. Um deine Zukunft. Am liebsten würden die Barclays den ganzen Skandal vertuschen und so tun, als sei nichts geschehen, aber damit kommen sie natürlich nicht durch. Was für ein Glück, dass du heute in Bury Hill warst und den Schwindel entdeckt hast! Nicht auszudenken …« Er verschwieg, was er sich nicht auszudenken vermochte, und setzte hinzu: »Was für eine schamlose Person!«
»Haben sie sie gefunden?«
»Wen? Meinst du diese … diese …?«
»Ihr Name ist Meredith«, sagte ich. »Haben sie sie gefunden?«
Vater nickte und seufzte, während Mortimer das Wort ergriff: »Kurz hinter Oxford. Sie sind nicht weit gekommen. Ein Stallbursche der Barclays war anscheinend eingeweiht und hat alles ausgeplaudert. Offensichtlich wollten Miss Wright Barclay und ihr Cousin bei einem entfernten Verwandten in Schottland unterschlüpfen, aber sie wurden auf der Landstraße abgefangen.«