»Gut.« Fidelma fühlte, wie ihr eine Last von den Schultern fiel. »Wieviel Zeit gewährst du mir für meine Untersuchung?«
Ein Diener trat ein und erhielt den Auftrag, die Schreibgeräte zu bringen. Die Augen des jungen Königs blickten kalt.
»Wie lange? Nun, du hast Zeit bis morgen mittag, dann soll das Urteil an dem Angelsachsen vollstreckt werden.«
Fidelmas vorübergehende Erleichterung fand ein plötzliches Ende, als sie erkannte, welche Beschränkung Fianamail ihr auferlegte.
»Na also«, lächelte Fianamail. »Du kannst nicht behaupten, ich hielte mich nicht an die Bräuche unseres Landes. Ich gebe dir Zeit, eine Berufung vorzubereiten. Das wolltest du doch.«
Der Diener kam mit den Schreibgeräten herein, und der König kritzelte schnell etwas auf das Pergament. Fidelma nahm sich Zeit zur Antwort.
»Gibst du mir nicht mehr als vierundzwanzig Stunden? Ist das Gerechtigkeit?« Sie sprach langsam und bemühte sich, ihren aufsteigenden Zorn nicht ausbrechen zu lassen.
»Ganz gleich, wieviel Gerechtigkeit, es ist jedenfalls Gerechtigkeit«, erwiderte Fianamail rachsüchtig. »Mehr schulde ich dir nicht.«
Einen Moment schwieg Fidelma und überlegte, womit sie noch an ihn appellieren könnte. Dann wurde ihr klar, daß es nichts mehr zu sagen gab. Der junge Mann besaß die Macht, und sie hatte keine größere Macht zur Verfügung, um sein Rachegelüst zu brechen.
»Nun gut«, sagte sie schließlich. »Wenn ich Gründe für eine Berufung finde, wirst du dann die Hinrichtung aufschieben bis zum Eintreffen des Oberrichters Barran, damit er den Fall prüfen kann?«
Fianamail rümpfte die Nase. »Wenn du Gründe für eine Berufung findest und meine Gerichte sie anerkennen, dann erlaube ich einen Aufschub, bis Brehon Barran herbeigerufen werden kann. Die Gründe für eine solche Berufung müssen aber stichhaltig sein und nicht bloß auf Verdacht beruhen.«
»Das versteht sich von selbst. Gestattest du mir auch, mich in diesen vierundzwanzig Stunden überall ungehindert zu bewegen, um meine Nachforschungen anzustellen?«
»Das steht alles hier drin.« Der König hielt ihr das Pergament hin. Sie nahm es nicht.
»Dann mußt du dein Siegel zur Bestätigung dafür darauf setzen, daß ich mit deiner Zustimmung und Vollmacht handele.«
Fianamail zögerte. Fidelma wußte, ein Stück Pergament mit seiner Zustimmung, daß sie ein paar Fragen stellen durfte, war nichts wert ohne das Siegel des Königs.
Der König war sich wiederum nicht schlüssig.
»Die Tötung eines techtaire gilt beim Oberrichter und beim Großkönig als ein schwerer Verstoß«, stellte sie nachdrücklich fest. »Für den Tod eines Königsboten, ob durch Mord oder Hinrichtung, muß man sich rechtfertigen. Es wäre klug, wenn du mir die Vollmacht erteiltest, den Fall zu untersuchen.«
Schließlich nahm Fianamail achselzuckend ein Stück Wachs aus der Dose, hielt es an die Kerze, bis Tropfen auf das Pergament fielen, und drückte seinen Siegelring darauf.
»Jetzt hast du meine Zustimmung. Es soll nicht heißen, ich hätte dir nicht alle Wege geöffnet.«
Fidelma war zufrieden und nahm die Vollmacht an sich.
»Ich möchte Bruder Eadulf sofort sprechen. Wird er hier in deiner Burg gefangengehalten?«
Zu ihrer Überraschung schüttelte Fianamail den Kopf. »Nein, nicht hier.«
»Wo dann?«
»Er sitzt drüben in der Abtei.«
»Was macht er dort?«
»Dort hat er sein Verbrechen begangen, und dort wurde er auch verhört und verurteilt. Äbtissin Fainder hat den Fall selbst in die Hand genommen, denn das Opfer war eine ihrer Novizinnen. In der Abtei wurde dem Angelsachsen der Prozeß gemacht, und dort wird er morgen hingerichtet.«
»Äbtissin Fainder? Ich dachte, die Abtei Fearna unterstände Abt Noe?«
»Wie ich dir schon sagte, ist Abt Noe jetzt mein geistlicher Berater und Beichtvater ...«
»Beichtvater? Das ist ein römischer Begriff.«
»Nenn ihn >Seelenfreund<, wenn du bei den komischen altmodischen Bräuchen der irischen Kirche bleiben willst. Ich habe ihm die religiöse Gerichtsbarkeit in meinem ganzen Königreich übertragen. Die Abtei des heiligen Maedoc wird nun von der Äbtissin Fainder geleitet. Ihre Verwalterin ist übrigens eine entfernte Kusine von mir, Etromma.« Es klang plötzlich entschuldigend. »Aus einem armen Zweig meiner Familie, mit dem ich wenig zu tun habe, aber sie soll die Geschäfte der Abtei sehr gut führen, wie ich höre. Doch es ist die Äbtissin selbst, die gefordert hat, daß uns die Bußgesetze in unserem christlichen Glauben wie auch in unserem täglichen Leben leiten sollen und die Bestrafung des Angelsachsen nach ihnen erfolgen soll.«
»Äbtissin Fainder?« überlegte Fidelma. »Von ihr habe ich noch nie etwas gehört.«
»Sie ist erst kürzlich nach mehreren Jahren, in denen sie Dienst in Rom tat, in unser Königreich zurückgekehrt.«
»Und sie tritt also für die römischen Bußgesetze gegen die Weisheitsschriften ihres eigenen Landes ein?«
Fianamail neigte bejahend den Kopf.
»Ich verstehe«, sagte Fidelma. »Du erwähntest, daß Bruder Eadulf beschuldigt wird, den Tod einer Novizin in der Abtei verursacht zu haben. Wen genau soll er denn getötet haben?«
Fianamail sah sie mit gespieltem Vorwurf an. »Bei jemandem, der in gestrecktem Galopp von Cashel herreitet und die Unschuld des Angelsachsen beweisen will, hätte ich gedacht, er wüßte, wessen er angeklagt ist«, spottete er.
»Des Mordes natürlich. Aber wen soll er denn ermordet haben?«
Fianamail heuchelte Mitleid. »Ich fürchte, Fidelma von Cashel, du hast dich mit dem Herzen in diesen Auftrag gestürzt und nicht mit dem Kopf.«
Fidelma errötete heftig. »Ich möchte, daß der Gerechtigkeit Genüge getan wird«, erklärte sie steif. »Wen also soll er getötet haben?« fragte sie erneut.
»Dein angelsächsischer Freund vergewaltigte ein junges Mädchen und erdrosselte es dann«, sagte der König ausdruckslos und beobachtete ihr Gesicht dabei. »Sie war Novizin in der Abtei ... und sie war erst zwölf Jahre alt.«
Auch nachdem sie aus dem Zimmer des Königs geleitet worden war, fühlte sich Fidelma wie betäubt. Von allen denkbaren Verbrechen war die Vorstellung, Eadulf sollte ein zwölfjähriges Mädchen vergewaltigt und dann ermordet haben, die abscheulichste. Wie konnte man Eadulf dessen schuldig befinden? Der Natur des Mannes, den sie kannte, war so etwas völlig fremd.
Im Hof der Burg wartete Fidelma, bis keine Krieger von Laigin mehr in Hörweite waren, und wandte sich dann an Dego, Aidan und Enda.
»Einer von euch muß nach Tara reiten und den Oberrichter Barran aufsuchen«, sagte sie leise. »Es wird ein gefährlicher Ritt durch das feindliche Gebiet von Laigin, aber es muß schnell geschehen.«
Aidan meldete sich sofort.
»Ich bin der beste Reiter hier, Lady«, sagte er einfach. Das war nicht ruhmredig gemeint, und Dego und Enda verschwendeten auch keine Zeit mit Widerspruch. Fidelma akzeptierte seine Feststellung ohne weiteres.
»Du mußt Barran überzeugen, daß er sofort mit dir herkommt, Aidan. Schildere ihm die Lage, soweit du sie kennst. Wenn nötig, bitte ihn in meinem Namen. Aber, Aidan . sei ganz vorsichtig. Es gibt hier wahrscheinlich Leute, die nicht wollen, daß du nach Tara gelangst oder gar mit Barran zurückkehrst.«
Aidan war zuversichtlich.
»Das verstehe ich und werde aufpassen, Lady. Ich brauche nicht lange, um das Gebiet der südlichen Ui Neill zu erreichen. Sie sind keine Freunde von Laigin, und wenn ich erst dort bin, habe ich nichts mehr zu befürchten. Mit einigem Glück bin ich in ein paar Tagen wieder hier.«
»Ich kann weiter nichts tun als die Hinrichtung morgen verhindern. Dann muß ich hoffen, daß du rechtzeitig mit Barran zurückkommst, und herausfinden, was hier eigentlich gespielt wird«, meinte sie.