»Wahrscheinlich eine Woche«, antwortete Fidelma. »Was nimmst du dafür?«
»Da ihr drei seid, und wenn ihr mir eine Woche garantiert, dann nehme ich einen pinginn für jede Person. Das ist ein screpall pro Tag. Dafür könnt ihr euch im ganzen Hause bewegen, kommen und gehen, wann ihr wollt, und essen, wann ihr wollt. Heißes Wasser zum Baden gibt es abends. Ihr seht, ich habe recht. Ihr fahrt besser, wenn ihr hier bleibt und nicht die Gastfreundschaft der Abtei beansprucht.«
Es war das zweite Mal, daß sich die Wirtin herabsetzend über die Abtei äußerte, und das erweckte Fi-delmas Interesse. Es stimmte, daß reisende Mönche und Nonnen normalerweise in einer Abtei kostenloses Obdach erhielten. Doch Lassars Meinung von der Abtei und ihrer Gastfreundschaft war überraschend schlecht, selbst für eine Gastwirtin, die die Abtei als Konkurrenz betrachten mußte.
»Weshalb sagst du das?« fragte sie.
Die Frau setzte eine trotzige Miene auf. »Offensichtlich bist du fremd hier.«
»Das habe ich nicht bestritten.«
»Die Zeiten haben sich geändert, Schwester. Mehr sage ich nicht. Die Abtei ist ein Ort des Elends geworden. Früher hatte ich Mühe, Reisende für mein Gasthaus zu gewinnen, denn viele suchten die Gastfreundschaft der Klostermauern. Heute will dort keiner mehr hin. Nicht seit ...« Sie hielt plötzlich inne und erschauerte.
»Nicht seit ...?« forschte Fidelma.
»Mehr sage ich nicht, Schwester. Ein screpall pro Tag für alle drei, wenn ihr die Zimmer nehmen wollt.«
Fidelma merkte, daß sich Lassar nichts Näheres über ihre Meinung zur Abtei entlocken lassen würde.
»Ein screpall pro Tag ist in Ordnung«, erklärte sie und schaute Dego und Enda an. »Ich gebe dir drei screpalls im voraus für die Zimmer. Wir möchten uns erst waschen und dann so bald wie möglich essen.«
»Wenn ihr euch kalt waschen wollt, ist das kein Problem. Heißes Wasser gibt es, wie gesagt, erst abends zum Baden. Ich habe jetzt hier wenig Hilfe, seit mein Bruder so eine großartige Stellung da oben im Palast bekommen hat.«
»Kein Problem«, versicherte ihr Fidelma, nahm einige Münzen aus ihrem marsupium, ihrer ledernen Gürteltasche, und reichte sie ihr.
Die Frau zählte die Münzen in der Hand. Dann lächelte sie zufrieden.
»Ich lasse euch Wasser auf die Zimmer bringen, und dann könnt ihr herunterkommen und essen, wann ihr wollt, allerdings nur kalte Speisen. Warme Mahlzeiten gibt es abends, weil .«
Fidelma lächelte nachsichtig. »Ich weiß. Wir sind dir für deine Hilfe dankbar, Lassar.«
Die Wirtin verschwand die Treppe hinunter. Dego atmete erleichtert auf.
»Was jetzt, Lady?« fragte er. »Was machen wir als nächstes?«
»Nachdem wir uns erfrischt haben, schlage ich vor, wandert ihr unauffällig in der Stadt umher und versucht möglichst viel über die Ereignisse hier aufzuschnappen. Stellt fest, was die Leute über die zwangsweise Einführung der Bußgesetze und ihrer Strafen statt unserer hergebrachten denken.«
»Und was machst du, Lady?« fragte Enda. »Sollten wir dich nicht lieber begleiten?«
Fidelma schüttelte den Kopf. »Ich gehe zur Abtei. Ich will Eadulf sprechen.«
Kapitel 4
Aus der Nähe erschien die Abtei Fearna noch bedrohlicher als aus der Ferne. Eine unheilvolle Aura umgab das Gebäude, hing so greifbar wie Spinnweben an seinen Mauern. Das Gefühl war unwirklich, fast ätherisch, aber es war da und hüllte alles ein wie ein kalter Nebel. Das Haupttor hatte zwei mächtige Flügel aus dunklem Eichenholz mit eisernen Angeln. Am rechten Flügel war eine große Bronzefigur angebracht. Fidelma erkannte darin das berühmte Engelsbildnis, das Maedoc geschaffen hatte, mit kunstvoll gearbeiteten Flügeln und einem Schwert in der rechten Hand. Das Gesicht war rund mit großen Augen ohne Höhlen, die ihm einen beinahe boshaften Ausdruck verliehen. Sie hatte gehört, das Bild werde »Unsere Liebe Frau des Lichts« genannt und stelle eine Schutzgestalt dar.
Fainder, Äbtissin von Fearna, wirkte ebenso eindrucksvoll und bedrohlich. Das mußte sich Fidelma eingestehen, obgleich sie sofort eine unerklärliche Abneigung gegen diese Frau empfand. Von dem Augenblick an, als sie in das Zimmer geführt wurde, in dem die Äbtissin kerzengerade in einem hohen, geschnitzten Eichensessel vor einem langen Holztisch saß, der ihr als Schreibtisch diente, spürte Fidelma die Ausstrahlung ihrer Gegenwart. Hochmütig und streitsüchtig, vermittelte sie selbst im Sitzen den Eindruck, von großer Statur zu sein, was von ihrer Hagerkeit noch verstärkt wurde. Doch als sie sich erhob, um Fidelma zu begrüßen, bestätigte sich dieser Eindruck nicht. Die hochgewachsene Fidelma überragte die nur mittelgroße Äbtissin. Der Anschein von Größe entstand einfach nur durch ihre Persönlichkeit und ihre Haltung, durch nichts weiter.
Die Hand, die sie Fidelma entgegenstreckte, war kräftig, mit hervortretenden Knochen und schwieliger Haut, wie sie eher einer Landarbeiterin als einer Nonne gehören mochte. Fainder war dunkelhaarig, und Fidelma schätzte sie auf Mitte Dreißig. Ihr Gesicht war ebenmäßig, doch mit etwas harten Zügen. Die schwarzen Augen lagen tief in den Höhlen, und eines schielte ganz leicht. Aber nicht dadurch wirkte sie unheimlich, sondern weil sie selten zwinkerte. Selbst mit dem kleinen Fehler schien sich der Blick der dunklen Augen in Fidelmas Gesicht zu bohren und wich nicht. Ein schwächerer Charakter als Fidelma hätte wohl die Augen verlegen niedergeschlagen.
Als Äbtissin Fainder sprach, klang ihre Stimme weich moduliert und mild und wiegte einen in trügerischer Sicherheit. Doch Fidelma, die ihre Menschenkenntnis über Jahre geschult hatte, spürte die harten Töne hinter der sanften Sprache. Fainder würde kei-nen Widerspruch gegen ihre Meinung dulden, dessen war sich Fidelma absolut sicher.
An der Art, wie ihr die Äbtissin die Hand hinhielt, erkannte Fidelma, daß sie sich nach römischer Sitte verneigen und den Amtsring küssen sollte. Sie nahm jedoch die Hand und neigte nur leicht den Kopf nach Sitte der irischen Kirche.
»Stet fortuna domus«, sprach sie feierlich.
Für einen Moment funkelten Äbtissin Fainders Augen vor Ärger, doch der Ausdruck schwand so schnell, daß nur ein scharfer Beobachter ihn bemerkt hätte.
»Deo juvante«, antwortete sie kurz, nahm wieder ihren Platz ein und winkte Fidelma zu einem Stuhl vor dem Tisch. Fidelma setzte sich.
»Du bist also Fidelma von Cashel?« Die Äbtissin lächelte, doch ihre schmalen, blutleeren Lippen öffneten sich dabei nur leicht. »Als ich in Rom war, wurde auch von dir gesprochen.«
Fidelma antwortete nicht. Dazu hatte sie nichts zu sagen. Statt dessen wies sie auf das Pergament mit Fia-namails Anweisung und Siegel.
»Ich komme in einer äußerst dringenden Angelegenheit, Mutter Äbtissin.«
Die Äbtissin nahm keine Notiz von dem Pergament, das ihr vorgelegt worden war. Sie saß aufrecht im Sessel, die Hände mit den Flächen nach unten auf dem Tisch, in derselben Haltung wie beim Eintritt Fi-delmas.
»Du hast einen Ruf als dalaigh, Schwester«, fuhr Fainder fort. »Doch bist du auch eine Nonne. Ich habe gehört, du hast dich veranlaßt gefühlt, die Abtei Kildare zu verlassen, weil du anderer Meinung warst als die Äbtissin Ita.«
Sie hielt inne in Erwartung einer Antwort, doch hatte sie ihre Bemerkung als Feststellung formuliert. Fidelma äußerte sich nicht dazu.
»Wenn man Nonne wird, Fidelma von Cashel«, sagte die Äbtissin mit leichter Betonung des Titels, der Fidelma als Prinzessin der Eoghanacht zustand, »dann hat man in erster Linie die Pflicht, den Regeln des Ordens zu gehorchen. Die oberste Regel ist der Gehorsam, denn es ist die Pflicht einer Nonne, nicht einmal in Gedanken anderer Meinung zu sein, nicht zu sagen, was man will, und nicht mit völliger Freizügigkeit zu reisen. Die Beachtung der Regel ist das Kennzeichen eines gottgefälligen Lebens.«