Schwester Etrommas Ton blieb kühl. »Mein leiblicher Bruder wie auch mein Bruder im Glauben. Mein armer Bruder ist eine schlichte Seele. Als Kinder gerieten wir in einen Überfall der Ui Neill, und er wurde am Kopf verwundet, so daß er jetzt nur noch einfache Arbeiten verrichten kann und solche, die viel Kraft erfordern.«
Schwester Etromma schob die eisernen Riegel an der Zellentür zurück.
»Ruf mich, wenn du wieder gehen willst. Bruder Cett oder ich sind in Hörweite.«
Sie öffnete die Tür, und Fidelma trat in die Zelle. Einen Augenblick blinzelte sie in den Lichtstrahl, der durch das vergitterte Fenster in der gegenüberliegenden Wand fiel.
Eine überraschte Stimme rief aus: »Fidelma! Bist du das wirklich?«
Kapitel 5
Als die Tür sich hinter ihr schloß und die Riegel knarrend vorgeschoben wurden, trat Fidelma in die Mitte des kleinen Raums und streckte dem jungen Mann, der sich rasch von seinem Schemel erhoben hatte, die Hände hin. Bruder Eadulf ergriff ihre Hände, und einen Moment schauten sich beide an. Kein Wort fiel, aber ihre Blicke trafen sich und drückten stumm ihre Besorgnis füreinander aus.
Eadulf wirkte abgemagert. Er hatte sich nicht regelmäßig rasieren dürfen, und deshalb bedeckten Stoppeln seine Wangen. Sein lockiges braunes Haar war ungekämmt und verfilzt, und seine Kleidung war schmutzig und roch. Eadulf bemerkte das Entsetzen in ihrer Miene und lächelte entschuldigend.
»Ich fürchte, die Gastfreundschaft in diesem Haus ist nicht gerade von der besten Art, Fidelma. Die gute Äbtissin hält nichts davon, Seife und Wasser an jemanden zu verschwenden, der nicht mehr lange in diesem Tal der Tränen zu verweilen hat.« Er hielt in-ne. »Aber ich freue mich so, dich noch einmal zu sehen, bevor ich diese Welt verlasse.«
Fidelma gab einen undefinierbaren Laut von sich, der vielleicht ein kleines Schluchzen war, dann versuchte sie tapfer, ihre Gefühle zu verbergen.
»Bist du sonst gesund, Eadulf? Hat man dich nicht mißhandelt?«
»Grob hat man mich behandelt ... zuerst«, gestand Eadulf gelassen. »Die Leidenschaften gehen hoch bei der Art von Verbrechen, das man mir zur Last legt. Es war ein junges Mädchen, das vergewaltigt und ermordet wurde. Aber wie geht es dir, Fidelma? Ich dachte, du wärst auf Pilgerreise in Iberia, zum Grab des heiligen Jakobus?«
Fidelma machte eine wegwerfende Handbewegung.
»Ich kam zurück, sobald ich die Nachricht erhielt. Ich eilte hierher, um dich zu verteidigen.«
Einen Moment lächelte Eadulf froh, dann wurde er wieder ernst.
»Hat man dir nicht gesagt, daß alles vorbei ist? Die sogenannte Gerichtsverhandlung dauerte nicht lange, und morgen habe ich eine Verabredung in dem Hof da unten.« Er nickte zu dem Fenster hin. »Hast du den Galgen gesehen?«
»Man hat es mir gesagt.« Fidelma sah sich um und setzte sich auf den Schemel, von dem Eadulf aufgestanden war.
Er nahm auf dem Bett Platz. »Hier vergesse ich schon meine Manieren, Fidelma. Ich hätte dich zum Sitzen auffordern müssen.« Das sollte spaßig klingen, aber seine Stimme war hohl und tonlos.
Fidelma lehnte sich zurück, faltete die Hände im Schoß und sah Eadulf forschend an.
»Hast du das getan, dessen man dich beschuldigt?« fragte sie abrupt.
Eadulf hielt ihrem Blick stand.
»Deus miseratur, ich habe es nicht getan! Darauf gebe ich dir mein Wort, obgleich ich fürchte, daß mein Wort in dieser Sache nicht zählt.«
Fidelma nickte kurz. Wenn Eadulf sein Wort gab, dann glaubte sie ihm.
»Erzähl mir die Geschichte. Ich verließ dich in Cashel, als ich abreiste, um das Pilgerschiff nach Iberia zu erreichen. Fang von da an.«
Eadulf schwieg einen Moment und sammelte seine Gedanken.
»Die Geschichte ist ziemlich einfach. Ich beschloß, deinem Rat zu folgen und zu Erzbischof Theodor nach Canterbury zurückzukehren. Ich war ja schon ein Jahr von dort fort. In Cashel hielt mich auch nichts mehr.«
Er schwieg; Fidelma bewegte sich zwar leicht auf dem Schemel, sagte aber nichts.
»Dein Bruder gab mir Botschaften für Theodor und für die angelsächsischen Könige mit.«
»Mündlich oder schriftlich?« erkundigte sich Fidelma.
»Die eine Botschaft an Theodor war schriftlich abgefaßt. Die anderen Botschaften an die Könige trug er mir nur mündlich auf, einfach Grüße und Freundschaftsbekundungen.«
»Wo befindet sich die schriftliche Botschaft jetzt?«
»Meine persönliche Habe wurde von der Äbtissin beschlagnahmt.«
Fidelma überlegte einen Augenblick. »Hattest du irgend etwas bei dir, was dich als techtaire auswies?«
Eadulf kannte das Wort und lächelte.
»Er gab mir einen weißen Amtsstab mit. Da fällt mir ein, den und den Brief habe ich wohl aus meiner Reisetasche genommen und sicherheitshalber unter dem Bett im Gästehaus versteckt.«
»Also hat man sie wahrscheinlich inzwischen zu deinen anderen Habseligkeiten getan?«
»Das nehme ich an. Dein Bruder wollte mir ein gutes Pferd leihen. Aber da ich nicht wußte, wann und wie ich es ihm zurückgeben könnte, nahm ich lieber einen Platz auf einem Frachtwagen an, den mir ein hierherreisender Kaufmann anbot. Ich wußte, ich würde auf einem Lastkahn flußabwärts fahren können und an der Küste ein angelsächsisches Handelsschiff für die Überfahrt in die Heimat finden. Bis hierher kam ich ohne jeden Zwischenfall.«
Er überlegte einen Moment, um die Ereignisse in der richtigen Reihenfolge zu berichten.
»Am späten Nachmittag erreichte ich die Abtei und bat natürlich um Unterkunft für eine Nacht, da ich annahm, ich würde am nächsten Morgen ein Flußschiff finden. Ich sprach mit der rechtaire, Schwester Etromma, die mich nach meinen Absichten fragte. Ich erklärte ihr, ich sei auf dem Weg zurück nach Canterbury. Ich hielt es nicht für notwendig, ihr zu sagen, daß ich Botschaften für den Erzbischof bei mir hatte. Sie wies mir ein Bett im Gästehaus an. In der Nacht schlief dort niemand anders. Ich besuchte den Abendgottesdienst, aß eine Mahlzeit und ging zu Bett. Ach, Schwester Etromma stellte mich auch der Äbtissin Fainder vor ... Doch die schien sehr beschäftigt, oder aber sie mag keine Angelsachsen. Sie ignorierte mich mehr oder weniger.«
»Was dann?«
»Ich lag in tiefem Schlaf. Es muß am frühen Morgen gewesen sein, vielleicht eine Stunde vor Sonnenaufgang, da wurde ich aus dem Bett gerissen. Um mich herum war Geschrei, und ich wurde gestoßen und geschlagen. Ich wußte nicht, was los war. Ich wurde hierhergeschleppt und in eine Zelle gesperrt .«
Fidelma beugte sich interessiert vor.
»Hat dir niemand erklärt, was vor sich ging? Hat man dich irgendwie beschuldigt oder dir gesagt, weshalb man dich zu einer solchen Stunde aus dem Bett holte?«
»Keiner sagte mir etwas, außer daß mir alle Beschimpfungen entgegenschrien.«
»Wann hast du zuerst erfahren, welche Beschuldigung gegen dich erhoben wird?«
»Erst nach langer Zeit. Ich würde sagen, es war gegen Mittag, als dieser riesige Bruder Cett hier in diese Zelle trat. Ich wollte wissen, was los war, aber gleich danach kam Äbtissin Fainder mit einem jungen Mädchen herein. Das Mädchen trug die Kutte einer Novizin, obgleich es noch sehr jung schien.«
»Was weiter?«
»Das Mädchen zeigte einfach auf mich. Niemand sagte etwas, und dann wurde es aus der Zelle geführt.«
»Die Kleine hat nichts gesagt? Kein einziges Wort?« forschte Fidelma.
»Sie hat einfach auf mich gezeigt«, wiederholte Eadulf. »Dann brachte die Äbtissin sie weg. Niemand sprach, und Bruder Cett ging auch hinaus und verschloß die Tür.«
»Wann hat man dir denn mitgeteilt, welches Verbrechen man dir zur Last legt?«
»Das hat man mir erst zwei Tage später erklärt.«
»Du warst hier zwei Tage eingesperrt, ohne daß dir irgend jemand etwas gesagt hat?« Fidelma wurde laut vor Zorn.