Mel wurde nicht verlegen.
»Mir wurde mitgeteilt, der König habe sich über meine Wachsamkeit gefreut und ich solle Befehlshaber der Palastwache werden. Bischof Forbassach habe mich empfohlen.«
Fidelma schwieg einen Moment.
»Diese Fial tauchte also aus dem Nirgendwo auf ...«
»Hinter den Ballen am Kai«, verbesserte sie Mel.
»Sie sagt, sie hat in der Dunkelheit alles gesehen, aber getan hat sie nichts«, stellte Fidelma spöttisch fest. »Hat sie die Geschichte der Äbtissin Fainder bestätigt?«
Mel machte ein überraschtes Gesicht. »Ich wußte nicht, daß die Aussage der Äbtissin eine Bestätigung brauchte.«
»Alles, was mit einem unnatürlichen Tod zu tun hat, braucht eine Bestätigung, sogar die Aussage einer Heiligen«, erwiderte Fidelma kurz. Sie ging zu den Ballen hin und blickte von dort zum Tor der Abtei.
»Stellen wir uns das Ganze einmal vor«, begann sie ruhig. »Fial und das tote Mädchen sind Novizinnen in der Abtei. Fial sagt, sie hat sich mit ihrer Freundin hier am Kai verabredet. Lassen wir mal beiseite, daß es sich um eine sehr ungewöhnliche Zeit handelt - mitten in der Nacht. Fial erklärt uns, sie sei angekommen und habe gesehen, wie ihre Freundin von einem Mann überfallen wurde, in dem sie Bruder Eadulf erkannte. Dann rannte dieser zurück in die Abtei. Ist das soweit richtig?«
»Das ist die Geschichte, wie sie mir das Mädchen erzählt hat.«
»Um sich aber hinter den Ballen verstecken zu können - und ich gehe davon aus, daß du ihre Lage richtig bezeichnet hast -, muß Fial an ihrer Freundin vorbeigegangen sein, während diese überfallen wurde. Nur wenn sie vor ihrer Freundin oder mit ihr zugleich hier eingetroffen wäre und sich verborgen gehalten hätte, während Gormgilla angegriffen wurde, ergibt ihre Geschichte überhaupt einen Sinn.«
Mel runzelte die Stirn und blickte drein, als sei ihm die Bedeutung von Fials Schilderung soeben zum erstenmal aufgegangen.
»Es war dunkel«, vermutete er, »vielleicht lief sie in der Dunkelheit an ihrer Freundin und dem Angreifer vorbei?«
Fidelma lächelte spitz. Sie brauchte nichts zu sagen, um ihm die Schwäche seiner Erklärung darzutun. Sie kam nun zu dem offenkundigen Widerspruch.
»Es gibt einen sehr merkwürdigen Zeitunterschied zwischen der Mordtat, die das Mädchen beobachtete, und dem Moment, wo sie sich bemerkbar machte. Wir müssen davon ausgehen, daß der Mörder geflohen war, bevor Äbtissin Fainder eintraf. Sein einziger Weg vom Kai zum Tor der Abtei wäre sonst von ihr blok-kiert gewesen, denn sie hielt mit ihrem Pferd am Ende des Kais. Stimmst du mir zu?«
Mel nickte stumm.
»Also hatte Fial lange hinter den Ballen gewartet. Sie beobachtete den Mord, sie sah den Mörder weglaufen - in Richtung auf die Abtei, nach ihrer Aussage. Sie sah Äbtissin Fainder ankommen, sie sah, wie du erschienst und die Leiche untersuchtest, sie wartete, bis die Äbtissin in die Abtei ging und du deinen Kameraden herbeiriefst. Erst dann trat sie vor. Ist sie jemals gefragt worden, warum sie so lange in der Dunkelheit dastand und abwartete?«
»Damals habe ich nicht daran gedacht«, sagte Mel. »Ich trug die Leiche in die Abtei, und mein Kamerad brachte Fial mit. Äbtissin Fainder hatte den Arzt geweckt und die Verwalterin, Schwester Etromma. Sie waren anwesend, als ich Fial befragte. Da erklärte sie, der angelsächsische Bruder sei der Mann, der ihre Freundin überfallen und getötet habe. Fial blieb in der Obhut einer der Schwestern, während wir alle ...«
»Wir?« fragte Fidelma.
»Die Mutter Äbtissin, Schwester Etromma, ein Bruder namens Cett, ich und mein Kamerad ...«
»Vielleicht nennst du den Namen deines Kameraden?«
»Er hieß Daig.«
»Hieß?« Fidelma hatte die Betonung herausgehört.
»Er ertrank hier im Fluß nur ein paar Tage nach diesen Ereignissen.«
»Anscheinend haben die Zeugen in diesem Fall die Angewohnheit, zu verschwinden oder zu sterben«, bemerkte Fidelma trocken.
»Schwester Etromma führte uns in das Gästehaus. Der angelsächsische Mönch war da und tat so, als ob er schliefe.«
»Tat so?« fragte sie scharf. »Wie kannst du sicher sein, daß er nur so tat?«
»Wie sollte es sonst sein, wenn er doch gerade von dem Mord am Kai hereingekommen war.«
»Wenn er gerade von dem Mord am Kai hereingekommen war.« Fidelma wiederholte den Satz mit starker Betonung auf dem ersten Wort. »Könnte es nicht sein, daß er den Mord nicht begangen hatte und tatsächlich schlief?«
»Aber Fial hatte ihn doch erkannt!«
»Es hängt viel davon ab, was Fial gesehen hat, nicht wahr? Also lag der Angelsachse im Schlafraum im Bett?«
»Ja. Bruder Cett war derjenige, der ihn weckte. Im Lampenlicht stellte sich heraus, daß der Bursche Blut an seiner Kleidung hatte, und ein abgerissenes Stück Stoff wurde bei ihm gefunden. Später ergab sich, daß der Stoff von Gormgillas Kutte stammte. Auf ihm waren auch Blutflecke.« Mels Miene hellte sich auf. »Das beweist, daß ihre Freundin Fial die Wahrheit sagte, denn wie sonst sollte das Blut auf die Kleidung des Angelsachsen und das Stück Kutte in seinen Besitz gekommen sein?«
»Ja, wie wohl?« fragte Fidelma rhetorisch. »Hast du Bruder Eadulf verhört?«
Mel schüttelte den Kopf. »An der Stelle erklärte Äbtissin Fainder, daß sie die Angelegenheit übernehme, da sie die Abtei betreffe. Sie bat mich, Bruder Cett dabei zu helfen, den Angelsachsen in eine Zelle in der Abtei zu bringen. Das geschah, und man holte Bischof Forbassach, den Brehon. Mehr weiß ich nicht von der ganzen Sache, bis ich natürlich in der Verhandlung als Zeuge auszusagen hatte.«
»Warst du mit dem Gang der Verhandlung zufrieden?«
»Die Frage verstehe ich nicht.«
»Kam dir nicht der Gedanke, daß die Ereignisse, so, wie du sie geschildert hast, Widersprüche aufweisen und Fragen aufwerfen?«
Mel überlegte einen Moment.
»Es stand mir nicht zu, darüber nachzudenken, sobald die Verantwortlichen den Fall übernommen hatten«, meinte er schließlich. »Wenn es Fragen zu stellen gab, dann war es die Aufgabe des Brehons, Bischof Forbassachs, das zu tun und auf alles hinzuweisen, was nicht stimmte.«
»Aber Forbassach stellte keine Fragen?«
Mel wollte etwas sagen, doch plötzlich spähte er aufmerksam über Fidelmas Schulter. Sie wandte sich rasch um nach dem Ziel seiner Blicke und erkannte trotz der langen schwarzen Kutte ohne Schwierigkeit die Gestalt der Äbtissin Fainder, die auf einem kräftigen Pferd den Weg an der Abteimauer entlanggaloppierte. Offenbar war sie eben durch das Tor herausgekommen.
Fidelma verzog das Gesicht vor Ärger.
»Mit ihr wollte ich gerade ein Wort reden. Die Frau kann einen aufregen! Die Zeit drängt. Aber wahrscheinlich will sie sich um das gesunkene Schiff kümmern.«
Mel schaute zum Stand der Sonne auf.
»Um die Zeit reitet Äbtissin Fainder immer aus«, erklärte er. Dann malte sich Überraschung in seinen Zügen. »Gesunkenes Schiff? Was für ein Schiff ist gesunken?«
Fidelma ignorierte ihn für einen Augenblick, denn sie fand es seltsam, daß eine Äbtissin regelmäßig ihre Abtei verließ und ausritt. Mönche und Nonnen verzichteten weitgehend auf Pferde und dehnten ihr Armutsgelübde auch auf das Reisen aus, wenn sie nicht einen gewissen gesellschaftlichen Rang besaßen. Fidelmas Stellung als dalaigh im Range eines anruth gab ihr das Recht, zu Pferde zu reisen, das sie als Nonne nicht genossen hätte.
»Wo reitet sie jeden Tag um diese Zeit hin?« fragte sie.
Mel ließ ihre Frage unbeantwortet »Gesunkenes Schiff?« wiederholte er. »Was meinst du damit?«
Fidelma berichtete ihm von der Nachricht, die Schwester Etromma erhalten hatte, die daraufhin zur Hilfeleistung fortgeeilt war.