»Trotzdem, Schwester«, warf Coba ein, »worauf willst du hinaus? Du sagst, Gabran wurde weder von Fial noch von der Äbtissin ermordet. Ich weiß nicht, wer ihn sonst getötet haben könnte, und auch nicht, warum überhaupt.«
»Gabran war nur ein Werkzeug. Er war das Mittel, mit dem der Handel mit Menschen betrieben wurde, das Mittel, mit dem sie zum Seehafen transportiert wurden. Gabran besaß nicht den Verstand, dieses grausige Geschäft zu ersinnen und durchzuführen. Habt ihr Fials Worte schon wieder vergessen? Sie sprach von dem verhüllten Mönch, der ihr befahl, Bruder Eadulf fälschlich zu beschuldigen.«
Mel rieb sich den Nacken. »Sie erwähnte auch einen anderen Matrosen, der ihm half, als Gabran betrunken dalag. Wer war denn dieser Matrose? Hat er sich gegen Gabran gestellt?«
Fidelma machte eine ungeduldige Handbewegung.
»Nein. Gabran hat sich gegen ihn gestellt. Dieser Matrose war der, der am nächsten Tag getötet wurde -der, für dessen Ermordung der arme Bruder Ibar hingerichtet wurde.«
Äbtissin Fainder zuckte zusammen. »Willst du damit sagen, daß Ibar unschuldig war?«
»Genau das will ich damit sagen. Ibar der Schmied war ein bequemer Sündenbock, und der wurde wahrscheinlich gebraucht. Kurz bevor er getötet wurde, hatte er sich darüber beschwert, daß er in der Abtei weiter nichts zu tun hatte, als Fesseln für Tiere anzufertigen. Vielleicht hat er nicht geahnt oder es zu spät geahnt, daß die Tierfesseln für Menschen benutzt wurden?
Bruder Eadulf erzählte mir, er habe gehört, wie Ibar auf dem Weg zum Galgen von Handschellen gesprochen habe. >Fragt nach den Handschellen!< habe er gerufen.«
»Ich würde gern wissen, Schwester, was Coba dich auch schon gefragt hat, nämlich worauf du hinauswillst«, schaltete sich die Äbtissin ein. Ihre Stimme zitterte leicht und schien alle Kraft verloren zu haben.
Fidelma schaute ihr offen ins Gesicht.
»Ich habe gedacht, das sei klar, Mutter Äbtissin«, antwortete sie ruhig. »Dieser Handel mit jungen Mädchen, die an ausländische Sklavenschiffe verkauft werden, wird von jemandem in Fearna geleitet, jemandem in der Abtei - und dieser Jemand ist ein Mönch, der dort einen hohen Rang besitzt.«
Äbtissin Fainder griff sich an die Kehle und wurde bleich.
»Nein! Nein!« schrie sie und brach unvermittelt bewußtlos zusammen.
Fidelma ging rasch zu ihr, beugte sich über sie und fühlte den Puls an ihrem Hals.
In diesem Augenblick stürmte einer der Krieger Cobas in höchster Aufregung in die Halle.
»Bischof Forbassach ist zurück. Er steht draußen mit einer großen Schar Krieger des Königs. Er verlangt, daß die Äbtissin und der Krieger Mel freigelassen werden und alle anderen sich ergeben. Was sagst du, Fürst? Ergeben wir uns, oder kämpfen wir?«
Kapitel 19
Eadulf fuhr aus dem Schlaf hoch, als die Tür seines kleinen Zimmers aufgerissen wurde. Verwirrt blinzelte er die Gestalten an, die sich an der Tür drängten. Eine von ihnen hielt eine Lampe. Sie war ihm sehr vertraut. Mit furchtbarer Verzweiflung erkannte Eadulf in ihr Bruder Cett. Neben ihm stand der junge Fianamail in freudiger Erregung. Undeutlich nahm Eadulf dahinter das erschrockene Gesicht Bruder Martans wahr.
Fianamails Miene verzog sich zu einem Lächeln der Befriedigung, als er auf Eadulf hinabblickte.
»Das ist der Mann«, bestätigte er. »Gut gemacht, Bruder Cett.«
Eadulf wurde von Bruder Cett aus dem Bett gezerrt und hochgerissen. Mit geübter Leichtigkeit wurde er herumgedreht, und die Hände wurden ihm auf dem Rücken gebunden. Der Hanfstrick schnitt tief in die Haut.
»Na, Angelsachse.« Bruder Cett grinste ihn höhnisch an, als er ihn wieder zum König herumdrehte, »du hast wohl gedacht, du bist uns entwischt. Haste falsch gedacht.«
Er begleitete seine Sätze mit kurzen, harten Schlägen, bei denen Eadulf sich vor Schmerzen krümmte und würgte.
»Bruder!« rief Bruder Martan entsetzt. »Wende doch nicht Gewalt gegen einen gefesselten Mann an, noch dazu einen Mann des Glaubens!«
Da hörte Eadulf eine vertraute Stimme.
»Der Angelsachse hat allen Glauben verloren, dem er einmal anhing, Bruder Martan. Doch du hast recht, wenn du Bruder Cett ermahnst. Du brauchst einen Todgeweihten nicht so grob zu behandeln, Bruder. Gott wird ihn strafen, bevor der Tag vergangen ist.«
Eadulf wandte sich um, und das bleiche Gesicht Abt Noes bot sich seinem umflorten Blick dar. Eadulf war sich seiner hoffnungslosen Lage bewußt und rang sich ein schmerzverzerrtes Lächeln ab.
»Deine christliche Nächstenliebe macht dir alle Ehre«, keuchte er mühsam.
Abt Noe trat einen Schritt vor und musterte ihn sorgfältig, doch seine Miene blieb ausdruckslos.
»Vor den Feuern der Hölle gibt es kein Entkommen, Angelsachse.« Sein Ton war feierlich.
»Das habe ich auch gehört. Wir alle haben uns eines Tages für unsere Missetaten zu verantworten, Könige und Bischöfe - und sogar Äbte.«
Abt Noe lächelte nur, wandte sich um und verließ die Zelle.
König Fianamail wurde ungeduldig. Er schaute zum Fenster der Zelle hinaus und sah, daß die Dunkelheit schwand. In einer Stunde würde der Tag an-brechen. Bruder Martan bemerkte seinen unruhigen Blick.
»Brecht ihr sofort nach Fearna auf?« fragte er. »Oder kehrt ihr erst zur Jagdhütte zurück?«
»Wir warten hier bis zur Morgendämmerung und reiten dann direkt nach Fearna«, erwiderte der König.
»Leider haben wir kein weiteres Pferd für euren Gefangenen«, entschuldigte sich der Klostervorsteher.
Fianamails Miene verdüsterte sich.
»Der Angelsachse braucht keins. Draußen vor dem Tor steht ein guter, starker Baum. Er ist unserer Gerechtigkeit zweimal entgangen. Ein drittes Mal entkommt er uns nicht. Wir hängen ihn, bevor wir fortreiten.«
Eadulf überlief es kalt, doch er bemühte sich, die Umstehenden seine Gefühle nicht merken zu lassen. Er zwang sich zu lächeln. Jeder mußte schließlich einmal sterben, war es nicht so? In diesen letzten Wochen hatte ihm ständig der Tod gedroht, wenn er auch gehofft hatte, durch Fidelmas Ankunft gäbe es eine Möglichkeit, daß die Wahrheit ans Licht käme. Fidelma! Wo war sie? Er wünschte, er könnte sie noch einmal in dieser Welt sehen.
»Geht das nach dem Gesetz?« Bruder Martan sah den König von der Seite an.
Fianamail drehte sich unwillig ihm zu.
»Nach dem Gesetz?« fragte er drohend. »Der Mann hat sein Urteil bekommen. Er sollte schon gehängt werden, als er entfloh. Natürlich ist das legal! Ich handle als Vertreter des Gesetzes. Bruder Cett wird sich um die Ausführung kümmern, und wenn du mo-ralische Bedenken hast, Bruder Martan, dann solltest du dich an den Abt wenden.«
Bruder Cett grinste Eadulf säuerlich an, während Bruder Martan die Zelle verließ.
»Und jetzt«, fuhr Fianamail fort, »will ich frühstücken, denn der Morgen ist kalt, und ich habe Hunger. Vor dem Morgengrauen aufstehen und Geächtete jagen müssen ist eine anstrengende Angelegenheit.« Er zögerte, als sei ihm gerade etwas eingefallen. »Übrigens, wir nehmen auch die beiden jungen Mädchen mit nach Fearna. Unter diesen Umständen haben sie in der Abtei eine bessere Aussicht auf ein gutes Leben, als wenn sie nach Hause gingen oder in der Gegend herumwanderten.«
Bruder Cetts sadistische Miene wurde noch breiter. »Es soll geschehen, wie du sagst.«
Die Tür der Zelle schlug zu, und Fianamail und der stämmige Bruder Cett ließen Eadulf allein den Beginn seines letzten Tages betrachten.
Die Pferde trabten in Zweierreihe auf Fearna zu. De-go ritt neben Fidelma, es folgten Coba und Enda nebeneinander, und hinter ihnen saß Fial auf demselben Pferd wie Mel, der neben Äbtissin Fainder ritt. Bischof Forbassach hatte sich dahinter eingeordnet. Die Spitze und den Schluß bildeten Krieger aus der Leibgarde König Fianamails. Es war kalt und dunkel, doch die führenden Reiter kannten anscheinend den Weg von Cam Eolaing nach Fearna gut und legten ein gleichmäßiges Tempo vor. Dego schaute Fidelma an.