»Warum hast du Coba überredet, sich zu ergeben, Lady?« fragte er. Sein Ton war etwas mürrisch. Die Frage war ihm durch den Kopf gegangen, seit Fidelma den bo-aire gedrängt hatte, den Kriegern, die Forbas-sach mitgebracht hatte, keinen Widerstand zu leisten. Für Dego war es die erste Gelegenheit seit jenen hektischen Augenblicken, die Frage zu stellen, und er tat es leise, um nicht von den Wachen gehört zu werden. »Wir hätten mit dem Bischof und seinen Leuten kämpfen können.«
Fidelma erwiderte seinen Blick.
»Und was dann?« fragte sie sanft. »Wir hätten uns Befriedigung durch zwecklosen Widerstand verschafft, oder, falls wir mit Glück Bischof Forbassach, den Brehon von Laigin, und die Krieger des Königs abgeschlagen hätten, wäre es etwa eine Genugtuung für uns gewesen, wenn wir dadurch einen blutigen Konflikt zwischen den beiden Königreichen ausgelöst hätten, in dem die Wahrheit und die Gerechtigkeit völlig vergessen worden wären?«
»Das verstehe ich nicht, Lady.«
»Nehmen wir an, Coba hätte sich geweigert, sich zu ergeben? Bischof Forbassach ist Brehon dieses Königreichs und besitzt das Recht, die Auslieferung von Personen zu verlangen, die gegen ihren Willen festgehalten werden.«
Dego schwieg.
»Welche gesetzliche Grundlage gäbe uns das Recht, dem Brehon dieses Königreiches den Gehorsam zu verweigern?«
»Ich dachte, wir wären nahe daran, die Lage zu klären. Du hattest schon bewiesen, daß Bruder Eadulf ungerecht verfolgt wurde für Verbrechen, die er nicht begangen hatte. Du hattest festgestellt, daß die Äbtissin in den schrecklichen Sklavenhandel mit jungen Mädchen verwickelt sein muß.«
»Was ich gesagt habe«, erwiderte Fidelma langsam, »war nur, daß die Abtei als Umschlagplatz diente, auf dem junge Mädchen den Fluß hinunter verfrachtet und an ausländische Sklavenschiffe verkauft wurden. Die Einzelheiten hatten wir noch nicht nachgeprüft, und noch weniger hatten wir aufgedeckt, wer hinter diesem Handel steckt.«
Dego war verwirrt.
»Aber jetzt haben wir gar keine Gelegenheit mehr, etwas herauszubekommen, Lady. Dadurch, daß wir uns ergeben haben, ist uns jede Möglichkeit genommen, unsere Nachforschungen fortzuführen. Bischof Forbassach wird uns bestenfalls aus diesem Königreich hinauswerfen lassen. Schlimmstenfalls wird er uns einsperren lassen wegen ... na, wegen irgendwas. Er wird sich bestimmt eine passende Beschuldigung ausdenken.«
»Dego, hätte Coba sich nicht ergeben, wären wir vielleicht alle von den uns an Zahl überlegenen Kriegern Forbassachs niedergemetzelt worden. Hätten wir aber durch ein Wunder Forbassach zurückgeschlagen, wie lange hätte es gedauert, bis der König selbst mit einem Heer gekommen wäre und Cam Eolaing niedergebrannt hätte? Wir hatten keine Wahl.«
Dego wollte die Logik ihrer Beweisführung nicht gern anerkennen. Auch Fidelma hatte sich eben erst von ihrer eigenen Logik überzeugt, denn vom Gefühl her stimmte sie Dego zu. Ihr Instinkt hatte sie zuerst zum Kämpfen aufgefordert, denn es gab eine Finsternis und ein Übel, das die Abtei durchdrang und alle, die mit ihr zu tun hatten. Doch als sie die Lage kühl erwog, erkannte sie, daß es keinen anderen Ausweg gab. Nun erhob sich jedoch die Frage, wie sie Bischof Forbassach dahin bringen könnte, daß er ihr gestattete, die Anhörung fortzusetzen, die sie in Cobas Halle begonnen hatte. Wenigstens hatte sie bewiesen, daß Bruder Eadulf nicht schuldig war, und sie hatte die Hauptzeugin dafür zur Verfügung, das Mädchen Fial.
Aber konnte sie sich auf Fial verlassen? Sie war jung und stand noch nicht im »Alter der Wahl«, und sie hatte ihre Darstellung der Ereignisse schon einmal geändert. Nach dem Gesetz war ihre Aussage unzulässig. Das hatte freilich Forbassach nicht daran gehindert, sie unter einem nichtigen Vorwand zuzulassen. Deshalb müßte er bei einer Berufung akzeptieren, daß Fials ihre Aussage zurückzog. Doch würde er das tun? Wenn Forbassach wollte, konnte er ihre Aussage leicht verwerfen.
Jeder Appell an Fianamail war jetzt fast hoffnungslos. Er war zu jung, ihm fehlte die Reife der Jahre, um seine Vorurteile zu überwinden und seinen übersteigerten Ehrgeiz, in seinem Lande ein bleibendes Andenken zu hinterlassen. Abt Noe hatte dem jungen Mann anscheinend eingeredet, sich als »Fianamail der Gesetzgeber« zu betrachten, als den König, der das Rechtssystem von Laigin änderte, indem er die Bußgesetze einführte, um es, wie er meinte, zu einem wahrhaft christlichen Königreich zu machen. Ihr wurde das Herz schwer, als sie diese Möglichkeiten bei sich erwog.
Ein Kampf gegen Bischof Forbassach und seine Krieger wäre nicht in Frage gekommen, doch sie näherten sich Fearna Kilometer um Kilometer, und ihr fiel kein vernünftiger Ausweg ein. Zu keinem Zeitpunkt ihrer Laufbahn hatte sich Fidelma so hilflos gefühlt. Dego hatte wahrscheinlich recht. So, wie sie Forbas-sach kannte, konnte sie nur hoffen, er werde sie und ihre Gefährten zur Grenze schaffen und aus Laigin ausweisen lassen. Schlimmstenfalls konnte er sie auch irgendeiner Verschwörung beschuldigen mit dem Ziel, die Gerechtigkeit zu behindern, falsche Anschuldigungen zu erheben oder Coba in seiner »Rebellion« gegen das Gesetz zu unterstützen. Forbassach war das alles zuzutrauen. Sie seufzte. Jetzt hoffte sie wirklich, es sei Eadulf gelungen, das Königreich zu verlassen. War er klug, hatte er sich zur Küste durchgeschlagen und ein Schiff gefunden, das ihn in seine Heimat brachte. Hatte er das nicht getan, dann konnte sie nur mit Schaudern daran denken, welches Schicksal ihn erwartete.
Das Morgengrauen führte einen klaren, kalten Tag herauf. Bruder Martan und zwei seiner Mönche standen am Tor der winzigen Klosterkirche der heiligen Brigitta, die Hände in ihren Kutten verborgen und die Köpfe mit den Kapuzen gesenkt. Der weiße Reif auf den Hängen des Gelben Berges glänzte wie Schnee und erstreckte sich noch weit nach Süden bis in das ferne Tal, wo sich der Fluß um die Hauptstadt des Königreichs Laigin herumwand, um Fearna, den Ort der großen Erlen.
Vor den Mönchen standen die beiden jungen Mädchen, Muirecht und Conna. In der eisigen Luft des frühen Morgens zitterten sie trotz der Wollmäntel, die ihnen der freundliche Bruder Martan gegeben hatte. Die Ereignisse hatten sie verwirrt und eingeschüchtert. Bruder Martan schaute unter seiner Kapuze heraus unglücklich auf das, was sich vor ihm abspielte.
Einer der Krieger Fianamails hielt die Pferde mit einer Hand locker an den Zügeln. Abt Noe, etwas seitlich von Bruder Martans Gruppe postiert, schien nicht sonderlich interessiert an den Vorgängen. Nur der junge König Fianamail, bereits im Sattel sitzend, ließ Ungeduld erkennen.
Von den Bäumen vor dem Tor zog einer sofort die Aufmerksamkeit auf sich. Es war eine verkrümmte schwarze Eiche, anscheinend so alt wie die Ewigkeit. An einem niedrigen Ast hatte der stämmige Bruder Cett einen Hanfstrick befestigt und geschickt zu einer Schlinge geknotet. Darunter hatte er einen dreibeini-gen Schemel aufgestellt, den er sich vom Kloster geborgt hatte. Nun sah er Fianamail fragend an und gab ihm zu verstehen, daß er bereit sei.
Fianamail blickte zu dem klaren Himmel auf und lächelte. Es war ein dünnes Lächeln der Befriedigung.
»Weitermachen«, rief er mit rauher Stimme.
Drei seiner Krieger kamen aus dem Kloster heraus und schoben Eadulf vor sich her.
Eadulf empfand keine Angst mehr vor dem Tod. Er hätte zugegeben, daß er den Schmerz fürchtete, aber nicht den Tod selbst. Seine Schritte waren fest. Er bedauerte die ungerechte Art seines Todes, die ihm keinen Sinn zu haben schien. Doch er hatte sich damit abgefunden, und je schneller alles vorüber war, desto eher war er die Furcht vor dem Schmerz los. Sogar auf den Schemel stieg er ungefragt. Seine Gedanken waren von Bildern Fidelmas erfüllt. Er versuchte, sich an ihr Gesicht zu erinnern, während Bruder Cett ihm die Schlinge um den Hals legte.