Barran hob die Hand, und Fianamail verstummte.
»Wenn es so ist, wie du sagst, dann wirst du eine Entschuldigung von niemand Geringerem als dem Oberrichter erhalten. Aber es gibt viele Dinge, die mich beunruhigen, so wie sie auch den Großkönig beunruhigen. Es ist besser, die Dinge nachzuprüfen und Fehler zu berichtigen, solange der Mann lebt, als sie richtigstellen zu wollen, wenn er schon tot ist.«
»Es gibt keinen Fehler.«
»Das werden wir weiter besprechen, wenn wir deine Burg erreichen, Fianamail.« Barran sprach ruhig, doch sein Ton erzwang Gehorsam selbst von Königen, und Fianamail war noch jung und unreif. »Der Großkönig findet es zudem sehr besorgniserregend, daß man an seinem Hof in Tara hört, in diesem Königreich werde unser angestammtes Rechtssystem nicht länger geachtet. Es heißt, daß du die Bußgesetze als geltendes Recht verkündet hast und über den Gesetzen der Fenechus stehend, die die Brehons vertreten. Kann das wahr sein?«
Er blickte hinüber zu Abt Noe.
»Stimmt es auch, daß du diesen jungen König so beraten hast, Noe?«
Barran war mit dem Abt bereits in Ros Alithir zusammengestoßen. Sie waren keine Freunde.
»Es gibt gute Gründe für die Übernahme der Bußgesetze, Barran«, antwortete Abt Noe steif.
»Dann werden wir sie zweifellos zu hören bekommen«, erwiderte Barran trocken. »Es ist freilich seltsam, daß der Brehon von Laigin, der geistliche Berater des Königs oder gar der König selbst nicht daran gedacht haben, nach Tara zu kommen und die Sache mit den anderen Brehons und Bischöfen der fünf Königreiche zu besprechen. Derzeit ist es das Gesetz der Fenechus, das im ganzen Lande gilt, und das ist das einzige Gesetz, an das die Menschen sich zu halten haben. Ein anderes Gesetz kenne ich nicht. Es würde den Großkönig und seinen Hof unangenehm berühren, wenn ohne unser Wissen noch weitere Verstöße gegen unser Gesetz vorgekommen sind.«
Eadulf stand immer noch da und massierte sich verwirrt die Handgelenke; der Hals schmerzte ihn von der Reibung des Stricks.
»Was geht hier vor?« flüsterte er Aidan zu.
»Lady Fidelma schickte mich nach Tara, um den Oberrichter so schnell wie möglich herzuholen. Ich dachte schon, wir kämen zu spät. Beinahe wäre es auch so gewesen.«
»Aber woher wußtet ihr, wo ich bin? Sie weiß es nicht.«
»Wir wußten es auch nicht. Wir haben Schwester Fidelma noch nicht getroffen. Wir ritten die Nacht hindurch, und vor einer Stunde kamen wir auf den Bergpfad weiter unten, der eine Abkürzung nach Fearna bildet. Er führt an Fianamails Jagdhütte vorbei, und dort bemerkten wir Bewegung. Barran ließ einen seiner Leute nachfragen, ob Fianamail anwesend sei. Wir erfuhren, er und Abt Noe seien hierhergeritten, um einen angelsächsischen Geächteten zu hängen. Ich meinte, das könntest nur du sein. Deshalb kamen wir in aller Eile her.«
Eadulf wurden die Knie weich, als er langsam begriff.
»Du meinst, es war ein purer glücklicher Zufall, daß ich nicht ...« Er erschauerte heftig bei der Vorstellung.
»Wir kamen gerade in dem Moment, als der große Kerl da drüben«, er zeigte auf Bruder Cett, »den Schemel unter dir wegstieß. Es war schon gut, daß mein Schwert scharf ist.«
»Du schlugst den Strick durch, als ich fiel?« fragte Eadulf ungläubig.
»Ich schlug den Strick durch, und zwar nicht den Bruchteil einer Sekunde zu spät, Gott sei Dank.«
Der Oberrichter hatte sein Pferd gewendet und näherte sich der Stelle, an der Eadulf stand.
»Bist du der Mann, der Bruder Eadulf von Seax-mund’s Ham genannt wird?«
Eadulf blickte auf in die hellen Augen Barrans. Er spürte die Persönlichkeit und die innere Stärke dieses Mannes, der vielleicht noch mehr Macht besaß als der Großkönig, denn er stand an der Spitze des Rechtssystems in allen fünf Königreichen von Eireann.
»Der bin ich«, antwortete er ruhig.
»Ich habe von dir gehört, Angelsachse.« Barrans Lächeln war freundlich. »Ich habe von dir gehört als von einem Freund Fidelmas von Cashel. Sie hat mich holen lassen, damit ich dein Richter sei.«
»Dafür bin ich dankbar, Mylord. Ich stehe vor dir ohne Schuld an alldem, was man mir zur Last legt.«
»Das werden wir zu gegebener Zeit feststellen.
Fühlst du dich so gesund, daß du direkt nach Fearna mitkommen kannst?«
»Ja.«
Hier schaltete sich Aidan ein.
»Es wäre besser, Bruder Eadulf einen Augenblick Ruhe zu gönnen, damit wir die Abschürfungen an seinem Hals behandeln können. Er ist nur knapp davongekommen.«
Barran besah sich die Wunden an Eadulfs Hals und nickte schweigend.
Bruder Martan eilte mit einem Krug Met herbei.
»Ich kenne mich damit aus, Lord Brehon. Met für den Magen und Salbe für die Wunden.«
Der Schemel, der kurz zuvor zu seinem Tode dienen sollte, wurde nun aufrecht hingestellt, damit sich Eadulf daraufsetzen konnte. Bruder Martan beugte sich über ihn und murmelte mitfühlende Worte. Er nahm einen kleinen Salbenkrug aus der Ledertasche an seinem Gürtel und rieb sanft etwas Salbe auf die wunden Stellen, die der grobe Strick hinterlassen hatte. Anfangs brannte es so sehr, daß Eadulf zusammenzuckte.
»Es ist eine Salbe aus Salbei und Beinwurz, Bruder«, erklärte ihm der alte Mönch. »Zuerst brennt es, aber später wirst du Linderung spüren.«
»Vielen Dank, Bruder.« Eadulf versuchte trotz der Schmerzen zu lächeln. »Es tut mir leid, daß ich deinem friedlichen kleinen Kloster so viele Probleme bereitet habe.«
Bruder Martans Miene war eher belustigt.
»Die Kirche ist der richtige Ort für Probleme. Dort sollte der Austausch stattfinden - Probleme gegen Frieden.«
Zum erstenmal seit Tagen hob sich Eadulfs Stimmung.
»Mir wäre es lieb, wenn ich meine Probleme gegen einen Apfel tauschen könnte. Das Hängen hat mich hungrig gemacht, und dein Met ist zwar gut, aber er stillt nicht meinen Hunger.«
Bruder Martan wandte sich um und gab den Wunsch an einen seiner Brüder weiter.
Fianamail kochte noch immer vor unterdrückter Wut, und sie brach aus, als er sah, daß Eadulf Met und ein Apfel gereicht wurden.
»Soll dieser Mörder verwöhnt werden, während wir hier in der Kälte herumstehen und auf ihn warten?« wandte er sich an Barran. »Was hat es für einen Sinn, ihm Salbe auf die Wunden zu schmieren, wenn ich ihn später doch hänge?«
»Ich esse meinen Apfel unterwegs«, erklärte Eadulf und stand auf. »Ich habe nichts gegen Eile, wenn die Eile dazu führt, mich zu entlasten und uns der Wahrheit in dieser Sache näher zu bringen. Ich fürchte allerdings, Fianamail hat es nur so eilig, um meinen Tod zu beschleunigen.«
Aidan half Eadulf, hinter ihm auf das Pferd zu klettern. Zwei der Krieger nahmen die beiden jungen Mädchen hinter sich. Muirecht und Conna hatten die dramatischen Ereignisse stumm und angstvoll verfolgt. Dann setzte sich die Reiterkolonne mit Barran, Fianamail und Abt Noé an der Spitze in Bewegung, den Hang des Gelben Berges hinunter, wo der weiße Reif jetzt sichtlich unter der steigenden Wärme der Sonne verschwand.
Kapitel 20
Die große Halle des Königs von Laigin war bis auf den letzten Platz gefüllt. Den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit bildete Barran, der in seiner reichen Amtskleidung dasaß und dessen prunkvoller Amtsstab ihm nicht nur nach dem Gesetz die höchste Autorität verlieh, sondern auch als dem persönlichen Vertreter des Großkönigs. Neben ihm lüm-melte sich Fianamail in seinem Amtssessel. Er wirkte eher wie ein übelgelaunter Jüngling denn wie ein König. Im Vergleich zu Barran verdiente er kaum Beachtung, denn Barran beherrschte die Halle allein durch seine natürliche Haltung und Persönlichkeit.
An den Seiten der Halle saßen mehrere Schreiber, eifrig über ihre Tontäfelchen gebeugt, auf denen sie sich Notizen machen würden, bevor sie das endgültige Protokoll der Verhandlung auf Pergament übertrugen. Angehende wie ausgebildete Brehons waren vertreten, denen es darauf ankam, etwas von der Weisheit des Oberrichters zu lernen. Als es in der Stadt bekannt wurde, daß Barran die Verhandlung leiten werde, hatte sich jeder nach Möglichkeit in die Halle gedrängt, um ein so wichtiges Urteil zu hören.