Der Plan war einfach: Sie schmuggelten Geld und Halskette in Bruder Ibars Zelle. Das übrige war Ga-brans Sache. Er sollte Daig erklären, Bruder Ibar habe versucht, ihm auf dem Markt die Goldkette zu verkaufen, und er habe sie als die erkannt, die sein Schiffer trug. Man durchsuchte Bruder Ibars Zelle und fand die eingeschmuggelten Beweisstücke. Damit war man Bruder Ibar los.«
Sie hielt inne und merkte, daß ihre Erzählung alle Anwesenden in ihren Bann geschlagen hatte. Selbst die Schreiber sahen sie mit großen Augen an.
»Verba volant, scripta manent«, ermahnte sie sie scharf. »Gesprochene Worte fliegen fort, geschriebene Worte bleiben.« Sie wollte das alles schriftlich festgehalten wissen. Es war eine verwickelte Geschichte, und sie wollte sich nicht wiederholen müssen. Die Schreiber beugten sich eifrig über ihre Notizen.
»Wir haben ein Sprichwort, man solle die Eier nicht zählen, bevor man das Huhn gekauft hat. War es etwas, was Gabran zufällig geäußert oder Ibar gesagt hatte, jedenfalls stieg in Daig der Verdacht auf, er habe den Falschen verhaftet. Wahrscheinlich äußerte Daig so etwas unbedacht gegenüber Gabran, denn kurz darauf fand Daig in einer dunklen Nacht an demselben Kai selbst den Tod.«
»Willst du behaupten, Daig wäre ermordet worden?« wandte Bischof Forbassach ein. »Es ist hinlänglich bekannt, daß es ein Unfall war. Er fiel, schlug mit dem Kopf auf und ertrank.«
»Ich bin der Meinung, daß Daig auf den Kopf geschlagen wurde, fiel und ertrank, alles in dieser Rei-henfolge, wenn er nicht schon tot war, als er ins Wasser stürzte. Das Motiv bestand darin, ihn daran zu hindern, seinem Verdacht weiter nachzugehen.«
Es trat eine Pause ein, in der sich ein Stimmengewirr erhob und langsam verebbte. Dann wandten sich alle Barran zu. Der leitende Schreiber klopfte mit seinem Stab.
»Fahre mit deinem Vortrag fort, Fidelma«, wies sie der Oberrichter an. »Ich erinnere dich aber daran, daß dies alles noch Vermutungen sind.«
»Dessen bin ich mir bewußt, Barran, doch ich bin sicher, daß ich am Ende meiner Darlegungen die Zeugen vorführen kann, die die Grundlagen meiner Vermutungen bestätigen werden. So hoffe ich ein Bild zu entwerfen, das keinen Zweifel mehr zuläßt.«
Barran gab ihr ein Zeichen weiterzusprechen.
»Meine unerwartete Ankunft störte einige dieser Pläne. Es wurde klar, daß Fial einem Kreuzverhör durch eine dalaigh, die nach Fehlern in ihrer Geschichte forschte, nicht standhalten würde, deshalb wurde sie wieder auf Gabrans Schiff geschafft. Man mußte sie loswerden. Doch Gabran, wollüstig, wie er war, beschloß, das arme Mädchen so lange zu benutzen, bis er von ihr genug hatte. Sie wurde wie ein Tier gehalten, unter Deck angekettet.«
»Bis Fial ihn tötete?« warf Abt Noe rasch dazwischen.
»Ich sagte bereits, daß sie ihn nicht getötet hat«, fauchte ihn Fidelma an.
Barran war verärgert.
»Du solltest den Ausführungen der dalaigh gut zuhören, Abt. Fidelma von Cashel hat dies bereits eindeutig dargelegt.« Er wandte sich an Fidelma. »Ich habe eine Frage.«
Fidelma sah ihn erwartungsvoll an.
»Solange Bruder Eadulf und Bruder Ibar am Leben waren, bildeten sie doch sicherlich eine Gefahr, denn sie hätten ihre Unschuld beweisen oder wichtige Informationen weitergeben können, die einen nachdenklichen Menschen dazu veranlassen könnten, Nachforschungen anzustellen. Nach unseren Gesetzen, die keine Todesstrafe kennen, wäre es zwecklos, die Schuld einem anderen zuzuschieben, denn es bestünde immer die Möglichkeit, daß er seine Unschuld an den Tag bringen könnte ...«
»Aber wer fragt nach der Unschuld eines Toten?« bemerkte Fidelma trocken.
»Hat also das Drängen der Äbtissin Fainder auf Bestrafung nach den Bußgesetzen, also auf die Todesstrafe, etwas damit zu tun? Oder die Tatsache, daß Bischof Forbassach offenbar seinen Eid als Brehon vergaß und in dieser Sache mit der Äbtissin übereinstimmte? Wenn das so ist, müssen wir auch berücksichtigen, daß Abt Noe den König Fianamail dahingehend beeinflußte, die Bußgesetze an die Stelle der Gesetze der Fene-chus zu setzen.«
Fidelma gab sich keine Mühe, zur Gegenseite hinüberzublicken.
»Das hat sehr wohl damit zu tun, Barran. Der Plan die Schuld auf Eadulf und Ibar zu schieben, hatte letztendlich zum Ziel, daß beide hingerichtet würden. Mortui non mordent!«
Barran schaute grimmig drein.
»Tote beißen nicht«, wiederholte er und genoß den Satz.
Bevor erneutes Murmeln einsetzen konnte, fuhr Fidelma fort: »Der Plan hätte trotz meines Eingreifens gelingen können, wäre da nicht der bo-aire von Cam Eolaing gewesen.«
Coba sah überrascht auf. Er hatte in gespannter Haltung dagesessen.
»Was hatte ich damit zu tun?«
»Du bist gegen die Anwendung der Bußgesetze. Aber weder Bischof Forbassach noch Äbtissin Fain-der ahnten, wie sehr du dagegen eingestellt bist und wie weit du gehen würdest, um das Rechtssystem dieses Königreichs zu wahren.«
Coba machte ein wehmütiges Gesicht.
»Ich bin zu alt, um mich an neue Anschauungen zu gewöhnen. Wie sagen doch die Brehons? Ein biegsamer Zweig ist dauerhafter als ein starrer Baum.«
»Eadulf verdankt deiner Starrköpfigkeit sein Leben, Coba. Du tatest das, was kein Mensch erwartete, indem du Eadulf befreitest und ihm Freistatt gewährtest.«
»Und dafür wirst du büßen müssen«, knurrte Bischof Forbassach mit einem zornigen Seitenblick.
»Das wird er nicht«, fuhr Barran scharf dazwischen. »Verteidigung des Rechts ist kein Verbrechen.«
Bischof Forbassach starrte den Oberrichter haßerfüllt an, schwieg aber klugerweise.
»Allerdings«, sprach Fidelma weiter, als hätte es keine Unterbrechung gegeben, »wurdest du mir dadurch für eine Weile verdächtig, Coba. Du hattest Eadulf Schutz gewährt und dann behauptet, er habe ihn mißbraucht und sei geflohen. Somit konnte er ungestraft niedergeschossen werden. Ich wußte, daß Eadulf einen guten Grund haben mußte, aus dem Bereich des maighin digona auszubrechen. Er kannte das Gesetz sehr gut. Ich dachte, du selbst hättest ihn dazu verleitet, die Freistatt zu verlassen. Erst als ich vor kurzem mit Eadulf sprach, wurde mir klar, daß du nicht daran beteiligt warst.«
Coba sah sie unsicher an und zuckte die Achseln. »Das freut mich.«
»Es war wieder Gabran, aber diesmal handelte er auf Anweisung seiner Auftraggeber, die herausbekommen hatten, wo sich Eadulf aufhielt. Gabran fuhr nach Cam Eolaing. Er kannte dort einen Krieger namens Dau, der in Cobas Diensten stand. Dau war käuflich und wurde gekauft. Gabran tötete den Wachposten am Tor und versteckte die Leiche, und dann erklärte er Eadulf, angeblich in deinem Namen, Coba, er sei frei und könne gehen. Aber es läuft nicht immer alles nach Plan. Als Gabran und Dau versuchten, Eadulf niederzuschießen, entkam er ihnen und verbarg sich in den Bergen. Nun wurde die Lage wirklich verzwickt für den Marionettenspieler.«
»Marionettenspieler?« Der Oberrichter runzelte die Stirn bei diesem ungewöhnlichen Ausdruck.
Fidelma lächelte entschuldigend. »Vergib mir bitte, Barran. Das Wort bezieht sich auf eine Art von Unterhaltung, die ich auf einer Pilgerfahrt nach Rom kennenlernte. Es bezeichnet jemanden, der andere manipuliert, aber selbst unsichtbar bleibt. Wir haben den alten Begriff seinm cruitte dara hamarc.«
Der alte sprichwörtliche Ausdruck stand für jemanden, der die Harfe spielt, ohne gesehen zu werden.
»Woher wußte dieser ... also dieser Marionettenspieler, daß Eadulf Zuflucht in meiner Burg gefunden hatte?« fragte Coba.
»Du hattest es ihm gesagt.«
»Ihm gesagt? Ich?«
»Du bist ein korrekter und moralisch denkender Mensch, Coba. Du gehorchst dem Gesetz der Fene-chus. Du hast mir berichtet, daß du gleich, nachdem du gehandelt und Eadulf Zuflucht gewährt hattest, einen Boten zur Abtei geschickt hast.«