Er erreichte das Schiff und stellte fest, daß Gabran einen seiner Männer in die Berge geschickt hatte, um die Ware abzuholen. Die Mädchen wurden immer an einem abgeschiedenen Ort an Bord genommen. Der größte Teil der Mannschaft Gabrans erhielt Geld und den Auftrag, die Esel, die das Schiff so weit flußaufwärts gezogen hatten, zurückzubringen und erst am nächsten Tag wiederzukommen. Die Mädchen würden erscheinen, während sie weg waren, und nur ein oder zwei Matrosen würden etwas von ihrer Existenz erfahren.
Der Mörder traf Gabran anscheinend allein an. Er tötete ihn mit einem kraftvollen Schwerthieb in den Hals. Dann mußte er warten, wahrscheinlich, um den anderen Mann umzubringen, wenn der mit den Mädchen ankam. Vermutlich hätte er die Mädchen auch getötet, damit alle Münder stumm wären. Doch der Mörder sah, wie sich die Äbtissin am Ufer näherte. Nun mußte er sich schnell davonmachen. Er verschwand in den Bergen. Vielleicht dachte er, er würde Gabrans Mann und den Mädchen unterwegs begegnen und könnte die Morde vollenden. Als er sie nicht finden konnte, ging er weiter zu dem Verwandten, dem er einen Besuch versprochen hatte.
Inzwischen hatte auf Gabrans Schiff die arme kleine Fial, von allen unbemerkt, sich in der winzigen Kajüte, in der sie seit Tagen gefangen lag, von ihren Fußfesseln befreit. Ohne zu wissen, was geschehen war, kletterte sie in Gabrans Kajüte hinauf und sah ihn tot auf dem Boden liegen. Ihr erster Gedanke war die Flucht in die Freiheit, und sie griff sich den Schlüssel, von dem sie wußte, daß er ihre Handschellen öffnete.
Dann hielt sie inne, weil ein mächtiger Zorn in ihr aufstieg. Sie nahm ein Messer, zog Gabrans Kopf an den Haaren hoch und stieß ihm in blinder Wut das kleine Messer in die Brust und die Arme. Er war bereits tot, und die Wunden wären nicht tödlich gewesen. Es war ihre Rache für das Leid und den Schmerz, die er ihr zugefügt hatte. Da klopfte es an der Kajütentür. Die Äbtissin war inzwischen an Bord gekommen. Erschrocken ließ Fial sowohl Gabran als auch das Messer fallen und flüchtete in ihr Loch zurück, wobei sie eine Handvoll Schlüssel mitnahm. Die Äbtissin trat ein.
Fial fand schließlich den richtigen unter ihren vier Schlüsseln, entkam durch die ganze Länge des Schiffes bis in den Laderaum, stieg an Deck und sprang ins Wasser. Sie trieb flußabwärts, bis es ihr gelang, an Land zu klettern, doch dann sah sie sich von Forbas-sach und Mel verfolgt.«
»Das ist eine gute Darstellung, Fidelma«, bemerkte Barran. »Aber läßt sich dadurch irgend etwas beweisen? Einiges davon wird durch die Aussagen Fials und der Äbtissin gestützt, das sehe ich, aber was ist mit dem geheimnisvollen Mörder? Und woher weißt du etwas von dem Verwandten in den Bergen?«
»So geheimnisvoll ist es nicht. Nach dem, was mir Bruder Eadulf von seinen Abenteuern erzählte, können wir sagen, wer der Mann ist.«
»Der Angelsachse? Wie kann er den Mörder kennen? Er war doch schon auf der Flucht«, wandte Bar-ran ein.
»Bruder Eadulf fand gastliche Aufnahme bei einem blinden Einsiedler namens Dalbach.«
Zum erstenmal seit Beginn der Verhandlung regte sich Fianamail. Er richtete sich plötzlich auf.
»Dalbach? Aber das ist ja mein Vetter! Wir sind verwandt!«
Barran lächelte spöttisch, bevor er sich an Fidelma wandte.
»Willst du damit sagen, daß es der König von Laigin selbst war, der an dem Tag seinen Vetter besuchte?«
Fidelma seufzte ungeduldig.
»Dalbach erzählte Eadulf, sein Verwandter sei Mönch in der Abtei Fearna. Damit war klar, wen er meinte.«
Als niemand darauf reagierte und den Namen aussprach, fuhr sie unwillig fort.
»Nun gut, dann will ich es weiter ausführen. Dal-bach beging offensichtlich den Fehler, seinem Vetter anzuvertrauen, daß er Eadulf Zuflucht gewährt hatte. Bereitwillig oder unter Zwang verriet er seinem Vetter, daß er Eadulf empfohlen hatte, in der Nacht am Gelben Berg Schutz zu suchen. Dieser Verwandte Dalbachs wußte, daß Eadulfs Tod von entscheidender Bedeutung war für den Plan, die Spuren der Verschwörung zu verbergen, also ritt er zum Gelben Berg.« Sie hielt inne und sah Fianamail an. »Du warst in deiner Jagdhütte dicht bei dem Nebenkloster der heiligen Brigitta, wohin Eadulf die beiden Mädchen gebracht hatte. Mitten in der Nacht kam jemand an und berichtete dir, wo Eadulf wahrscheinlich zu finden sei.«
Viele Blicke richteten sich auf Abt Noe, doch Fia-namail schaute zur Seite.
»Es war mein Vetter, mein Vetter ...«
Bruder Cett stieß einen eigenartigen, tierischen Schrei aus und versuchte, aus der Halle zu stürmen.
Erst vier Mann aus Barrans Leibgarde gelang es, den großen, kräftigen Mann zu überwältigen.
Fidelma breitete die Hände aus.
»Quod erat demonstrandum. Es war Bruder Cett. Ich hatte gehört, daß er dein Vetter ist, Fianamail, und als Eadulf mir sagte, daß nur Dalbach wußte, wo er sich in der letzten Nacht verbarg, und daß Dalbach ebenfalls mit der Königsfamilie der Ui Cheinnselaigh verwandt ist und außerdem einen Vetter hat, der Mönch in Fearna ist, brauchte ich nur noch zwei und zwei zusammenzuzählen. Wenn ihr Bruder Cetts Kutte untersucht, werdet ihr als weiteren Beweis feststellen, daß sie ungefähr fünfzig Zentimeter vom Saum entfernt einen Riß hat.«
Einer der Krieger beugte sich hinunter, um nachzusehen, richtete sich auf und bestätigte es Barran.
Fidelma nahm einige Wollfäden aus ihrem Tragebeutel. »Ich bin sicher, diese Fäden passen zu der Kutte. Cett blieb an einem Nagel in Gabrans Kajüte hängen.«
Das ließ sich sehr schnell nachprüfen.
»Nur ein starker Mann wie Cett konnte den Aufwärtsstoß führen, der Gabran tötete, weder ein schwaches Mädchen wie Fial noch die Äbtissin wären dazu in der Lage.«
Beifälliges Murmeln durchlief die Halle. Es wurde übertönt von Bischof Forbassachs spöttischer Stimme. Er hatte etwas von seiner früheren Selbstsicherheit zurückgewonnen und war auf Rache aus. Er kicherte geradezu.
»Du bist zweifellos sehr schlau, Fidelma, aber nicht schlau genug. Der Mönch, der sich auf dem Schiff befand und Fial befahl zu lügen, war nicht Bruder Cett, sonst hätte das Mädchen etwas über seinen mächtigen Körperbau gesagt. Sie bestritt sogar, daß es dieselbe Person war.«
In schweigender Erwartung richteten sich alle Blik-ke auf Fidelma.
»Ich beglückwünsche dich zu deiner Beobachtungsgabe, Forbassach«, gestand sie. »Wie schade, daß du auf eine so scharfe Prüfung der Beweislage so demonstrativ verzichtet hast bei deinen Vernehmungen von Eadulf und Ibar, bevor du sie zum Tode verurteiltest.«
Bischof Forbassach stieß ein zorniges Lachen aus.
»Eine Beleidigung ändert nichts an der Tatsache, daß deine Geschichte nicht stimmig ist. Fianamail wird mir die Bemerkung verzeihen, daß Cett nicht gerade der hellste Kopf seiner Familie ist. Von dem Unterschied in der Beschreibung abgesehen, ist die Vorstellung, Cett wäre dazu fähig, der . wie hast du es genannt? ... der Marionettenspieler zu sein - also das ist blanker Unsinn!« Mit zufriedenem Grinsen setzte sich Forbassach wieder hin.
»Wenn ich mich recht erinnere, sagte ich bei der Erörterung dieses Falls in Cobas Burg - und Coba wird mir das sicher bestätigen - unter anderem, daß der Marionettenspieler jemand mit einer einflußreichen Stellung in der Abtei sei.«
Coba nickte eifrig. »Das hast du gesagt, aber For-bassach hat recht. Fials Beschreibung paßt nicht auf Cett. Auch hat Cett keine einflußreiche Stellung in der Abtei.«