Er machte äußerlich nicht viel her. Nur ein langer Stock aus Eisenholz, in den tiefe vormenschliche Symbole geschnitzt waren. Eine uralte Waffe, älter als der Torquesschneider, älter als die Familiengeschichte. Alter als die Familie wahrscheinlich. Wir haben keine Ahnung, wer sie erschaffen hat oder warum. Vielleicht hatten sie sie benutzt und es gab deshalb nirgends Aufzeichnungen über sie. Schließlich streckte der Waffenschmied eine ruhige Hand aus und nahm den Stock herunter. Er verzog das Gesicht, als ob allein die Berührung beunruhigend für ihn sei. Er wog ihn einmal in der Hand, dann drehte er sich abrupt um und gab ihn mir. Ich nahm ihn ganz behutsam entgegen. Er fühlte sich … schwer an, beladen mehr mit spirituellem Gewicht als mit materiellem. Eine Last für den Körper und für die Seele.
Wegen dem, was er war und was er tun konnte.
»Aber … das ist ja bloß ein Stock!«, sagte Molly. Sie hatte sich herangeschlichen, um wieder bei uns zu sein. »Das ist es? Ich meine, ist das das ganze Teil? Verwandelt er sich in etwas anderes, wenn man damit auf den Boden schlägt? Oder hast du nur vor, den Leuten damit auf den Kopf zu hauen?«
»Dies ist der Eidbrecher«, erklärte ich. Mein Mund war ganz trocken, gleichzeitig schwitzten meine Hände. »Er macht alle Vereinbarungen rückgängig, alle Bindungen. Bis ganz hinunter auf die atomare Ebene, wenn nötig.«
»Na schön«, sagte Molly, »jetzt machst du mir Angst!«
»Gut!«, sagte ich. »Denn mir jagt er eine Heidenangst ein. Waffenschmied, gib Molly den Torquesschneider! Nur für alle Fälle.«
»Geh in die Bibliothek«, sagte der Waffenschmied. »Und bring in Erfahrung, was du wissen musst. Ich werde ein Auge auf Alexandra haben. Aber lass dir nicht zu lange Zeit, Eddie! Der Lärm und das Getümmel, die du ausgelöst hast, werden die Leute nicht lang zum Narren halten.«
»Ich weiß, Onkel Jack.«
»Die Familie … ist nicht mehr das, was sie einmal war, Eddie. Ein Teil von mir … wünscht, ich könnte mit dir gehen, wenn du weggehst. Aber jemand muss bleiben und für die Seele der Familie kämpfen. Um der Droods willen - und um der Welt willen.«
Kapitel Zwanzig
Spinnentiere und Leseratten
»Oh, oh!«, sagte Molly, als wir die Labore wieder betraten.
Ich sah sie an. »Das werden keine gute Nachrichten, stimmt's?«
»Der Drachentalisman ist gerade wieder an meinem Kettchen erschienen. Das bedeutet, jemand in deiner Familie hat endlich zwei Gehirnzellen zusammengebracht, erkannt, dass ein so großer Drache unmöglich real sein kann und einen einfachen Dispersionszauber über ihn verhängt. Mein kleines Ablenkungsmanöver ist jetzt offiziell zu Ende.«
»Sie werden alle schnurstracks wieder ins Herrenhaus kommen«, grübelte ich stirnrunzelnd, »um herauszufinden, wovon der Drache sie ablenken sollte. Also wird es jetzt jeden Moment hier vor wirklich stinksauren Droods wimmeln, die nach jemanden suchen, an dem sie ihre Wut auslassen können … Zeit für uns zu gehen, Molly. Es war schön, dich wiederzusehen, Onkel Jack.«
»Wie weit ist es bis zur Bibliothek?«, fragte Molly, praktisch denkend wie immer.
»Zu weit«, antwortete der Waffenschmied. »Ihr seid nicht mal im richtigen Flügel.«
»Kein Problem«, meinte Molly. »Dann rufe ich einfach ein Raumportal her, das uns direkt hinbringt.«
»Nein, das werden Sie nicht«, sagte der Waffenschmied mit ausdrucksloser Stimme. »Die inneren Verteidigungssysteme des Herrenhauses lassen keine Teleportationen zu, weder magische noch wissenschaftliche, aus Sicherheitsgründen. Nicht einmal ich könnte etwas erzeugen, das wirkungsvoll genug ist, um die Verteidigungen des Herrenhauses zu durchbrechen.« Er unterbrach sich und blickte nachdenklich drein. »Es sei denn, ich kann den Rat überzeugen, meine Forschungen über schwarze Löcher doch noch zu finanzieren …«
»Wenn wir bitte beim Thema bleiben könnten«, rief ich ihn in die Gegenwart zurück.
»Es muss doch einen Weg geben, wie wir in die Bibliothek gelangen können, ohne bemerkt zu werden!«, sagte Molly. »Wie sieht's mit einem Illusionszauber aus? Ich könnte etwas Einfaches auf die Beine stellen, was uns wie jemand anders aussehen lässt. Oder einen Aversionszauber: lässt jeden überall hinschauen, nur nicht auf uns.«
»Würde nicht funktionieren«, sagte ich. »Unsere Torques warnen uns automatisch vor dieser Art von Zaubern. Sie würden einfach ihren Blick anwerfen und sie durchschauen.«
»Im Zweifelsfall sollte man es einfach halten«, sagte der Waffenschmied ein bisschen blasiert. Er nahm zwei arg in Mitleidenschaft gezogene alte Laborkittel aus einem Spind in der Nähe und streckte sie uns entgegen. »Zieht die an! Jeder, der euch begegnet, wird auf die Kittel schauen, nicht in die Gesichter. Die Familie ist daran gewöhnt, dass meine Laborassistenten überall aufkreuzen und ihnen zwischen die Füße geraten. Haltet einfach die Köpfe unten und geht weiter, und es wird euch nichts passieren. Verdammt, ich bin gut …«
Molly und ich schlüpften in die Laborkittel. Sie waren beide mit einer Sammlung ganz fürchterlicher Flecken überzogen, ganz zu schweigen von den Rissen, Schnitten und, in meinem Fall, einer echt gefährlich aussehenden Bissspur. Mollys Kittel reichte ihr bis an die Knöchel, aber ich hatte genug Verstand, um nicht zu grinsen.
»Mein Kittel riecht komisch«, sagte sie und funkelte mich aufsässig an.
»Sei dankbar«, erwiderte ich. »Meiner stinkt geradezu widerlich.«
Ich drehte mich zum Waffenschmied um, und ein bisschen verlegen schüttelten wir einander die Hand. In der Regel machten wir das nicht, aber wir wussten beide, dass es vielleicht keine weitere Gelegenheit mehr dazu geben würde.
»Auf Wiedersehen, Eddie«, sagte der Waffenschmied und blickte mir direkt in die Augen. »Ich wünschte … es gäbe mehr, was ich für dich tun könnte.«
»Du hast bereits weit mehr getan, als ich erwarten durfte«, entgegnete ich. »Auf Wiedersehen, Onkel Jack.«
Er lächelte Molly an und gab auch ihr die Hand. »Ich bin froh, dass Eddies Frauengeschmack sich endlich verbessert hat. Es war mir ein Vergnügen, Sie kennenzulernen, Molly. Und jetzt schafft euch hier raus und macht ihnen die Hölle heiß!«
»Aber sowas von«, sagte Molly.
Molly und ich verließen die Waffenkammer und schlossen die explosionssicheren Türen sorgfältig hinter uns. Es war nicht sinnvoll, an die große Glocke zu hängen, dass die Waffenkammer für zufällige Besucher aufgelassen worden war. Ich durfte nicht zulassen, dass der Waffenschmied zu Schaden kam, bloß weil er mir geholfen hatte. Schon konnte ich meine Familie in den Außenbereichen des Herrenhauses fluchend nach den Eindringlingen suchen hören. Sie kamen stetig näher und riefen dabei mit lauten und aufgeregten Stimmen Anweisungen und Erkenntnisse und Kommentare hin und her. Es hörte sich an, als sei die ganze verdammte Familie mobilisiert worden. Die Matriarchin ging kein Risiko ein. Die Laborkittel würden uns an ein paar Leuten vorbeibringen, aber nicht an solchen Massen … Es brauchte bloß einen Moment des Erkennens, eine erhobene Stimme …
Glücklicherweise gab es noch eine Alternative. Nur leider keine sehr angenehme.
»Damals, als ich ein Kind war«, sagte ich im Plauderton zu Molly, während wir durch einen leeren Korridor hasteten, »knobelte ich verschiedene Möglichkeiten aus, im Herrenhaus herumzustreifen, ohne gesehen zu werden. Wenn man nämlich an einem Ort erwischt wurde, wo man nicht sein sollte, wurde man bestraft. Oftmals hart bestraft. Aber zum Glück ist das Herrenhaus sehr alt, und im Lauf der Jahre ist das Wissen über gewisse äußerst nützliche Geheimtüren und -gänge verloren gegangen oder in Vergessenheit geraten. Und weil ich viel in der Bibliothek gelesen habe, insbesondere in Bereichen, zu denen ich eigentlich keinen Zugang haben sollte, war ich in der Lage, gewisse alte Bücher zurate zu ziehen, in denen die exakte Lage dieser äußerst nützlichen Abkürzungen beschrieben ist.