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Es gibt Türen, die einen von einem Zimmer ins andere bringen können, von einem Flügel in den anderen, ohne dass man dabei den dazwischenliegenden Raum durchqueren muss. Es gibt enge Verbindungsgänge mit dicken, hohlen Wänden, die einmal Teil der alten Zentralheizung und der Belüftungsabläufe waren. Es gibt eine Falltür im Kellergeschoss, durch die man im Dachgeschoss landet, und einige Zimmer, die nur an bestimmten Tagen da sind. Ich muss sie wohl alle irgendwann einmal benutzt haben, auf meiner nie enden wollenden Suche nach Dingen, von denen ich eigentlich nichts wissen sollte.«

»Hat deine Familie denn nie Verdacht geschöpft?«, wunderte sich Molly.

»Oh, aber sicher! Diese alten Gänge zu finden ist für junge Droods eine Art Ubergangsritus ins Erwachsenenalter; stillschweigend geduldet, wenngleich nicht unterstützt. Die Familie sieht gern Initiative in ihren Kindern - solange sie den anerkannten Regeln und Traditionen folgen. Aber ich habe einige sehr seltsame Wege gefunden, von deren Existenz nicht einmal jemand geträumt hatte, und ich habe niemandem davon erzählt. Ich brauchte damals etwas, was mir gehörte und nicht der Familie.«

»Darf ich dem entnehmen, dass du eine Abkürzung in die Bibliothek kennst?«, fragte Molly.

»Genau. Nicht weit von hier gibt es in der Wand eine Öffnung zu einem niedrigen Zwischenraum.«

»Und warum hast du das nicht gleich gesagt?«

»Tja …«

»Es gibt schlechte Nachrichten, stimmt's? Irgendwie weiß ich einfach, dass es schlechte Nachrichten gibt!«

»Es ist gefährlich«, sagte ich.

»Wie gefährlich?«

»Der Zwischenraum ist … bewohnt. Du musst wissen, dass das Herrenhaus seine Stromkabel und Gasleitungen und so weiter irgendwo außer Sicht unterbringen muss, aber aus Sicherheitsgründen können sie nicht einfach in den Wänden versteckt werden; sie müssen extra geschützt werden. Gegen Sabotage und dergleichen. Deshalb befinden sich all unsere Kriechkeller und -speicher und verborgenen Wartungsbereiche in angegliederten Taschendimensionen. Wie der Armageddon-Kodex und der Löwenrachen, aber in einem viel kleineren und weniger dramatischen Maßstab. Und viel leichter zugänglich für Leute, logischerweise. Jedenfalls sind einige dieser Taschendimensionen schon so lange in der Gegend, dass sie sich ihre eigenen Bewohner zugelegt haben. Wesen, die hineingewandert und … mutiert sind. Oder sich weiterentwickelt haben.«

»Was genau bewohnt denn diesen speziellen Zwischenraum?«, wollte Molly wissen.

»Spinnen«, sagte ich unglücklich. »Große Spinnen. Und damit meine ich echt große Spinnen; Dinger von der Größe deines Kopfs! Dazu ein ganzer Haufen anderer, wirklich ekelhafter Krabbeltiere, von denen die Spinnen sich ernähren.«

»Spinnen stören mich nicht!«, erklärte Molly. »Das ist mehr eine Jungensache. Nacktschnecken machen mich wahnsinnig. Überhaupt alle Schnecken. Weißt du, wie Schnecken Sex haben?«

»Diese Spinnen werden dich stören!«, versicherte ich ihr, indem ich mich weigerte, mich ablenken zu lassen. »Ich kann nur hoffen, dass sie nicht wirklich so groß und widerwärtig wie in meinen Kindheitserinnerungen sind, denn es gibt keine Möglichkeit, ihnen auszuweichen. Ihre Netze sind überall! Manchmal habe ich immer noch Albträume, so oft haben sie mich durch den Zwischenraum gejagt … mit ihren trippelnden Beinen und glühenden Augen …«

»Und warum hast du dann immer wieder diese spezielle Abkürzung benutzt?«, fragte Molly.

»Weil ich mich nie von irgendetwas davon abhalten lasse, zu machen, was ich machen muss«, entgegnete ich. »Nicht einmal von meiner eigenen Angst. Vielleicht davon ganz besonders nicht.«

»Und es gibt keine andere Möglichkeit, in die Bibliothek zu kommen?«

»Keine sichere.«

Molly prustete. »Du hast echt merkwürdige Vorstellungen davon, was sicher ist und was nicht, Drood!«

Ich führte sie durch einen schattigen Seitenkorridor, vorbei an einer langen Reihe hoher Bodenvasen aus der Mingdynastie und anschließend vorbei an einer Vitrine voll exquisitem venezianischem Glas, bis wir an eine vertäfelte Wand kamen, die sich von uns weg in die Ferne erstreckte. Ich musste Molly hinter mir herziehen, denn so viel Reichtum, bequem in Reichweite, lenkte sie ab. Ich zählte die Holztafeln ab, bis ich zu einem eigentümlichen, geschnitzten Rosenmotiv kam, und drehte dieses dann vorsichtig die korrekte Anzahl von Malen linksherum und rechtsherum, bis das primitive Zahlenschloss widerstrebend einrastete. Die Rose klickte vernehmlich, und eine Tafel in der Wand glitt ruckweise auf. Der alte Mechanismus litt offenbar unter Abnutzungserscheinungen. Hinter der Tafel und in der Wand war nur Dunkelheit.

Die Öffnung, die mehr als hinreichend für ein Kind gewesen war, war nur so groß, dass Molly und ich uns gerade noch durchzwängen konnten. Wir kauerten uns davor nieder und spähten in die Finsternis. Eine schwache, kalte Brise, die einen trockenen, staubigen Geruch mit sich führte, kam aus dem Dunkel. Molly rümpfte die Nase, sagte aber nichts. Dicke Spinnfäden hingen im Inneren der Öffnung und schwangen träge im Luftzug. Nichts deutete darauf hin, dass in den vergangenen paar Jahren jemand in diesem Zwischenraum gewesen war. Ich lauschte still nach Geräuschen und bedeutete Molly mit einer scharfen Handbewegung, sich ruhig zu verhalten, als sie herumzappelte. Ich konnte nichts hören - im Augenblick. Ich holte tief Luft, nahm meinen Mut zusammen und zwängte mich schnell durch die enge Öffnung, ehe ich es mir anders überlegen konnte. Molly folgte mir hinein und drängte sich dicht hinter mich, und die Holztafel glitt ruckweise wieder an Ort und Stelle.

Die Dunkelheit war absolut. Rasch beschwor Molly eine Hand voll ihres patentierten Hexenfeuers, und das schimmernde silberne Licht zeigte uns einen schmalen Steintunnel, dessen raue graue Wände fast völlig unter Schichten von farbkodierter Verdrahtung, Kabeln und Kupfer- und Messingrohrleitungen begraben waren. Dicke Spinnwebmatten zogen sich über beide Wände. Ich achtete sorgfältig darauf, nichts davon zu berühren oder zu stören, trotzdem verzog ich unwillkürlich das Gesicht. Mollys Hexenlicht zeigte uns zwar den Tunnel, der sich vor uns erstreckte, aber falls es eine Decke gab, so reichte das Licht nicht hoch genug, um sie zu finden. Ein dicker Streifen Gewebe wurde von einer Wand fortgeweht, getragen von einem heftigen Luftzug, und ich schreckte davor zurück.

»Du großes Baby!«, sagte Molly mit breitem Grinsen.

»Ist das da nicht eine Nacktschnecke neben deinem Fuß?«, fragte ich und grinste, als Molly laut vor Ekel quiekte.

Ich ging voran, den Tunnel hinunter; mein Stolz ließ mir keine andere Wahl. Auf dem Boden lag eine dicke, unberührte Staubschicht. Schon die kleinsten Geräusche, die wir machten, schienen unaufhörlich widerzuhallen - die einzigen Laute in dieser unendlichen, schaurigen Stille. Der Tunnel verbreiterte sich stetig, bis er so groß wie ein Zimmer schien, dann wie ein Saal, und dann wurde er plötzlich noch breiter, bis ich nicht mehr sagen konnte, wie groß der Raum war, in dem wir uns bewegten. Ich hielt mich dicht an der rechten Wand, deren vertraute, von Menschenhand geschaffene Kabel und Rohrleitungen mir Trost spendeten. Bis die Spinnweben sie so tief begruben, dass ich sie nicht mehr deutlich sehen konnte.

Molly verstärkte ihr Hexenfeuer so sehr wie möglich, aber das Licht pflanzte sich nicht weit fort - ab einem gewissen Punkt schien die Dunkelheit es einfach aufzusaugen. Es lag ein Gefühl von naher Zukunft in der Luft … das sich von uns weg erstreckte, endlos. Wir gingen und gingen, und der Weg war genauso schlimm, wie ich ihn in Erinnerung hatte. Vielleicht sogar noch schlimmer: Immer wieder stieß ich auf plötzlich vertraute Einzelheiten, die ich aus meiner Erinnerung verdrängt hatte. Wie beispielsweise die leeren Hüllen wirklich großer Käfer und anderer Insekten, die überall auf dem Boden herumlagen und deren Inneres herausgekaut worden war. Und die dicken Stränge von Spinnengewebe, die von irgendwo hoch über uns herabhingen und zitterten und sich drehten, obwohl die Brise nicht mehr wehte. Es wunderte mich, dass ich damals, als ich noch ein Kind war, den Mut gefunden hatte, diesen Weg zu gehen. Aber der Gedanke an die Bestrafungen des Seneschalls hatte es mir wohl leicht gemacht. Vor ihm hatte ich viel mehr Angst gehabt als je in meinem Leben vor Riesenspinnen. Auch wenn ich mir ziemlich sicher war, dass er mich nicht tatsächlich umgebracht hätte.