Выбрать главу

»Danke für deine Fürsorge«, sagte ich. »Die medizinische Abteilung ist da unten; zwanzig Regale weiter, die dritte rechts, dann folgst du der -«

»Ach, zum Teufel!«, unterbrach Molly mich. »Wegbeschreibungen waren noch nie meine Stärke. Ich sollte besser einen Leitzauber benutzen, sonst hängen wir hier die ganze Nacht rum.« Sie zog ein Pendel an einem Silberdraht aus einer versteckten Tasche und versetzte es in Rotation. Das Pendel blieb jäh stehen und zeigte genau auf mich. Molly runzelte die Stirn. »Das ist … interessant. Es zeigt eine Kraftquelle an dir an, und es ist nicht der Eidbrecher. Genau genommen bekomme ich sogar ziemlich viel nicht entladene Energie rein, die noch an dem Schlüssel hängt, den der Waffenschmied dir gegeben hat.«

Sie steckte das Pendel weg, während ich den Schlüssel herausnahm und ihn betrachtete. Der Waffenschmied hatte Wert darauf gelegt, mir den Schlüssel zu geben, obwohl er gewusst haben musste, dass ich einfach hätte hochrüsten und die Türen eintreten können. War der Schlüssel irgendein Hinweis? Auf irgendein Geheimnis, von dem er mir aus einem bestimmten Grund selbst nicht erzählen wollte? Ich untersuchte den Schlüssel mit meinem Blick, und da war ein zweiter Zauberspruch so deutlich darauf geschrieben, dass sogar ich sagen konnte, worum es sich handelte: ein Spruch, um ein verborgenes Schloss zu bedienen und eine Geheimtür zu öffnen. Hier, in der Bibliothek? Es hatte nie auch nur das Gerücht von einer Geheimtür in der Bibliothek gegeben …

Ich drehte den Schlüssel hin und her, und als ich ihn in eine bestimmte Richtung hielt, flackerte der Spruch kurz auf. Ich folgte dem Schlüssel durch die Regale, und Molly trottete neben mir her. Bis wir schließlich zu dem alten Bild an der südwestlichen Wand kamen.

Es war das einzige Gemälde in der Bibliothek. Ein gewaltiges Stück, gut zweieinhalb Meter hoch und anderthalb Meter breit, eingefasst in einen stabilen Stahlrahmen. Es war Jahrhunderte alt, älter als das Herrenhaus selbst, sagten manche; Künstler unbekannt. Das Bild stellte eine andere Bibliothek dar, deren zahlreiche Regale vollgestopft waren mit mächtigen, ledergebundenen Bänden und Pergamentrollen, die mit farbenprächtigen Bändern verschnürt waren. Auf dem Gemälde waren keine Leute, keine symbolischen Objekte, keine offensichtliche Anordnung wichtiger Gegenstände. Keine Bedeutung, keine Botschaft; nur die alte Bibliothek. Molly und ich standen vor dem Bild und betrachteten es.

»Ich bin ja keine Expertin«, meinte Molly, »aber das … ist ein echt langweiliges Gemälde. Ist es für die Familie von Bedeutung?«

»In gewisser Weise schon«, antwortete ich. »Dieses Bild zeigt die alte Bibliothek, die ursprüngliche Quelle des Drood-Wissens. In dieser ersten Bibliothek war die ganze Frühgeschichte der Droods untergebracht, möglicherweise sogar Wissen über unsere wahren Anfänge, das seit Langem für uns verloren ist. Du musst wissen, dass die alte Bibliothek bei einem Brand zerstört wurde, der von unseren Feinden gelegt worden war. Unsere größte Katastrophe. Das ganze Haus mitsamt der Bibliothek brannte nieder, weshalb die Familie auch hierherzog, zu Zeiten König Heinrichs V. Dieses Bild ist alles, was aus dieser Zeit noch übrig ist, und soll uns daran erinnern, was wir verloren haben.«

»An diesem Gemälde ist etwas Sonderbares«, sagte Molly langsam. »Ich kann Magie darin spüren. Im Rahmen und in der Leinwand, in der Farbe und sogar in den Pinselstrichen. Spürst du es auch?«

Ich untersuchte das Bild gründlich mit meinem Blick, wobei ich den Schlüssel fest in der Hand hielt, und das ganze Gemälde schien mit einem inneren Licht zu strahlen. Und endlich bemerkte ich etwas, was ich vorher nie gesehen hatte: In dem Silberrahmen befand sich ein kleines, sorgfältig getarntes Schlüsselloch, das in einer Schneckenverzierung versteckt war. Ich machte Molly darauf aufmerksam, dann steckte ich vorsichtig den Schlüssel des Waffenschmieds hinein. Er passte perfekt. Ich drehte ihn herum, und einfach so wurde das ganze Gemälde lebendig. Ich betrachtete kein Bild mehr, sondern eine Szene aus dem Leben, einen Durchlass zu einem anderen Ort. Einen Eingang zur alten Bibliothek. Ich nahm Molly bei der Hand, und gemeinsam traten wir hindurch.

Die alte Bibliothek war gar nicht verloren, war nicht verschwunden, sondern nur vor aller Augen versteckt. Hing die ganzen Jahre lang vor unserer Nase. Die alte Bibliothek, real und unversehrt, die ganze Frühgeschichte und das ganze Wissen letzten Endes doch erhalten! (Erhalten für wen? Nein - darüber denken wir später nach.) Ich blieb ganz still genau im Eingang stehen und blickte mich um. Die alte Bibliothek erstreckte sich in alle Richtungen, endlose Bücherborde und turmhohe Regale, vollgestopft mit Büchern und Handschriften und Schriftrollen, so weit das Auge reichte. Ich schaute hinter mich, und jenseits des offenen Raums der Türöffnung konnte ich weitere Regale, weitere Bücherborde sehen.

Langsam schritt ich durch den Gang vor mir, vor Erschütterung wie betäubt. Die größte Katastrophe in der Geschichte meiner Familie war eine Lüge! Nach allem, was ich bisher in Erfahrung gebracht hatte, hätte mich das eigentlich nicht überraschen dürfen, aber absichtlich so viel Wissen, so viel Weisheit geheim zu halten … war eine fast unbegreifliche Sünde. Ganz behutsam nahm ich einige der übergroßen Bücher herunter und schlug sie auf. Die Ledereinbände quietschten laut und die Seiten schienen Staub und uralte Gerüche zu verströmen. Es waren bebilderte Handschriften, die Sorte, an denen Mönche jahrelang mühsam gearbeitet hatten. Größtenteils lateinisch, ein paar altgriechisch. Andere Sprachen, in gleichem Maße alt oder obskur. Es gab Palimpseste und Pergamente und Stapel von Schriftrollen, von denen manche so zerbrechlich aussahen, dass ich in ihrer Nähe nicht einmal zu tief zu atmen wagte.

»Hier drin arbeitet irgendeine Art von Magieunterdrückungsfeld!«, sagte Molly auf einmal. »Ich kann es spüren.«

»Das überrascht mich nicht«, meinte ich geistesabwesend, vertieft in eine Schriftrolle, in der es um König Harold und die Seele Albions ging. »Muss eine Sicherheitsmaßnahme sein, um die Inhalte zu schützen.«

»Ich könnte notfalls wahrscheinlich ein paar kleinere Zauber durchzwängen«, fuhr Molly fort, »falls wir uns verteidigen müssen.«

»Würdest du dich bitte mal entspannen?«, sagte ich. »Wir sind die Einzigen hier drin.«

Ich rollte die Schriftrolle wieder zusammen, verknotete das Band wieder und legte sie vorsichtig an ihren Platz zurück. Die Antwort auf meine vorherige Überlegung war klar: Die einzigen Leute, die die alte Bibliothek so hatten verstecken können, waren … der innere Zirkel der Droods. Die Matriarchin, ihr Rat und ihre Günstlinge. Unsere Geschichte und unsere wahren Anfänge waren gar nicht verloren, waren nicht vernichtet; sie wurden absichtlich vor dem Rest von uns geheim gehalten im Interesse der wenigen Auserwählten. Aber was konnte es hier geben, das so wichtig, so gefährlich war, dass es versteckt werden musste? Das sie nicht mit uns Übrigen teilen konnten oder wollten? Ich ging weiter durch die Regale, öffnete wahllos Bücher und Schriftrollen, fast trunken durch die Aussicht auf so viele Antworten auf so viele Fragen, die mir alle offenstanden. (Vielleicht hatten sie es deshalb für sich behalten … damit sie dieses Gefühl genießen konnten.) Als ich tiefer zwischen die Regale vordrang, entdeckte ich Historien in Sprachen, die seit Jahrhunderten niemand mehr benutzt hatte; Werke, auf Pergament und gegerbten Häuten festgehalten von den Sachsen, den Kelten, den Angeln und den Dänen und den Wikingern. Und in anderen Sprachen, die so alt waren, dass sie seit Jahrhunderten niemand mehr laut gesprochen hatte.

»All das war die ganze Zeit hier!«, sagte ich schließlich. »Und ich habe nichts davon gewusst! Das wahre Erbe meiner Familie, uns gestohlen von jenen, denen zu vertrauen und die zu ehren man uns immer gelehrt hat. Das hier hätte uns allen frei zugänglich gemacht werden müssen. Wir haben ein Recht zu wissen, woher wir gekommen sind! Wer unsere Vorfahren waren, was sie taten und warum sie es taten. Ich möchte gern wissen, was der innere Zirkel sonst noch vor uns Übrigen verheimlicht hat, vorm Fußvolk und all den braven kleinen Soldaten, die hinauszogen, um zu kämpfen und für die Ehre der Familie zu sterben … Wir haben das Ende der Fährte erreicht, Molly. Die Antwort ist hier; ich weiß es.«