»Die Antwort?«, sagte Molly behutsam. »Welche spezielle Antwort meinst du, Eddie?«
»Die Antwort darauf, wie alles begann! Wo wir herkamen. Wo die Rüstung herkam. Wie wir Droods wurden.« Ich blickte Molly an. »Ich habe mich manchmal schon gefragt, ob meine Vorfahren vielleicht irgendeinen Pakt mit dem Teufel geschlossen haben.«
»Nein!«, erwiderte Molly sofort. »Wenn das der Fall wäre, hätte ich davon erfahren.«
Ich entschied mich, nicht zu fragen. Jetzt war nicht die Zeit, sich ablenken zu lassen. Ich schaute mich um und setzte meinen Blick ein: Ein komplexes Gitterwerk aus Schutzzaubern lag über allem; einige davon waren ziemlich beeindruckend stark. Und tückisch. Manche Bücher und Schriftrollen leuchteten hell auf ihren Borden und strahlten seltsame Energien aus. Und ein Werk loderte wie ein Leuchtfeuer, voller uralter Macht. Es stellte sich als einfache Schriftrolle heraus, deren Worte mit Tinte auf grob gegerbte Tierhaut geschrieben worden waren. Die äußeren Markierungen waren in einer Sprache, die ich nicht einmal erkannte. Molly drängte sich dicht neben mich.
»Irgendeine Ahnung, was das ist?«
»Die Antwort«, sagte ich.
»Na gut, schön, aber davon abgesehen …«
»Es gibt nur einen Weg, das herauszufinden«, sagte ich und berührte die Wachssiegel, die die Rolle geschlossen hielten, mit dem Eidbrecher. Urplötzlich tauchten die aktivierenden Worte aus dem alten Eisenholzstock selbst einfach in meinem Verstand auf, und als ich sie sprach, eins nach dem anderen, zerbrachen die Schutzzauber um die Rolle und verschwanden. Ganz vorsichtig rollte ich sie auf, und die dunkle Tinte im Inneren hob sich deutlich von der kaffeebraunen Haut ab. Der Text war druidisch, aus Römerzeiten. Was an und für sich schon ungewöhnlich war, denn Druidisch lernen war eine strikt mündliche Tradition, die von Mund zu Mund und Generation zu Generation weitergegeben wurde. Nie wurde etwas niedergeschrieben, damit nichts in die Hände des Feindes fallen konnte. Aber für das hier hatten sie eine Ausnahme gemacht - und ich konnte erkennen, warum.
»Es ist Latein«, sagte Molly, die mir neugierig über die Schulter guckte. »Sonderbarer Dialekt. Irgendetwas über eine Abmachung.«
»Du kannst Latein lesen?«, fragte ich und konnte die Verblüffung nicht aus meiner Stimme heraushalten.
Sie funkelte mich an. »Ich mag vielleicht nicht die Vorzüge deiner privaten Ausbildung genossen haben, aber ein oder zwei Sachen weiß auch ich! Ohne ausreichende Kenntnisse des Lateinischen kann man keinen der größeren Zauber wirken. Die meisten alten Pakte und Bindungen sind darin abgefasst. Was wir hier vor uns haben … ist ein Zauberspruch. Ein Zauberspruch, um verborgene Wahrheiten zu enthüllen … über die Anfänge der Drood-Familie! Du hattest recht, Eddie; es ist die Antwort. Und, wenden wir den Spruch an? Direkt hier und jetzt?«
»Selbstverständlich!«, sagte ich. »Noch eine Chance dazu bekommen wir vielleicht nicht.«
»Ist das etwas, was du gern allein machen möchtest?«, fragte Molly. »Ich meine, ich könnte es verstehen, wenn du -«
»Nein«, sagte ich sofort. »Wir sind zusammen so weit gekommen; es ist nicht mehr als richtig, wenn wir den letzten Schritt auch noch zusammen gehen.«
Also sprachen wir beide den Spruch unisono, intonierten das alte Lateinisch laut gemeinsam, und die Welt, die wir kannten, wurde von einer Woge ungezügelter Magie fortgerissen, als der Zauber uns einen Blick in vergangene Zeiten bot.
Wir waren nicht dort. Wir sahen und hörten alles, aber wir waren nicht anwesend. Dies war die Vergangenheit, und wir hatten keinen Platz darin, außer als Beobachter.
Vor uns lag das alte Britannien. Die Zinninseln nannten es die Römer, denn Zinn war unser einziger Besitz, der sie interessierte. Das Land der Briten: ein wilder Ort, damals, als wir alle im Wald lebten, in den wilden Wäldern, an den dunklen Stellen, wohin die Römer uns nicht zu folgen wagten. Das Bild bewegte und veränderte sich und zeigte uns Ansichten, die mit Sinn und Bedeutung beladen waren. Wir sahen zu und lernten.
Zu dieser Zeit begann die Geschichte der Droods. Wilde Männer in zottigen Fellen, deren zähnefletschende Gesichter mit blauem Färberwaid beschmiert waren, rannten brüllend durch die Bäume: Meine Vorfahren, die Druiden. So wild, so ungezähmt, dass sie sogar die abgebrühten römischen Legionäre in Angst und Schrecken versetzten. Sie kämpften; Stämme gegen Heere, Bronze gegen Stahl. Und doch gewannen die Druiden anfangs, drängten die einfallenden Römer bis zu ihren wartenden Schiffen zurück und schlachteten sie dann in den Untiefen ab, bis sich der ganze Ozean rot von ihrem Blut zu färben schien. Die Überlebenden segelten weg - aber sie kamen wieder. Die Römer kamen wieder, und wieder, bis sie schließlich durch Stahl und Taktik und zahlenmäßige Überlegenheit triumphierten. Denn sie waren ein Heer, und wir waren nur verstreute Stämme, die sich untereinander oft genauso sehr hassten, wie sie die Invasoren hassten.
Am meisten fürchteten die Römer die Druidenpriester. Sie versuchten sie auszurotten, ihr mündlich überliefertes Wissen und ihre Traditionen zusammen mit ihrer grausamen Religion zu zerstören. Und es schien ihnen auch zu gelingen … bis das Herz kam und alles sich änderte.
Es fiel nicht aus den Wolken, wie die offizielle Geschichte sagt. Es fiel nicht wie ein Engel vom Himmel oder wie ein Meteor aus dem Weltraum. Es lud sich aus einer anderen Dimension herunter, einer anderen Art von Realität. Drängte sich unserer Welt auf durch einen Akt reinen Willens. Die Auswirkungen seiner Ankunft töteten alles Leben in der näheren Umgebung und legten im Umkreis von Meilen alle Bäume flach. Tagelang bebte die Erde und seltsame helle Lichter und Energien brannten im Himmel. Doch die Druiden, obschon in vernünftigem Rahmen vorsichtig, fürchteten sich vor nichts und schickten Abgesandte zum Herzen.
Jene Druiden wurden die allerersten Droods.
Meile um Meile wanderten sie zwischen umgestürzten Bäumen, und obwohl sie Wunder und Gräuel sahen und Lebewesen, die durch die entsetzlichen Energien, die die Ankunft des Herzens freigesetzt hatte, mutiert waren, blieben sie nicht stehen oder wandten sich ab. Sie waren Schamanen, deren Aufgabe es war, den Stamm vor Bedrohungen von außen zu schützen und zu verteidigen. Und schließlich gelangten sie zu der großen Lichtung verdorrter, toter Erde, auf der das Herz lag. Ein Diamant, so groß wie ein kleiner Berg, glitzernd und schön - und lebendig. Er sprach zu den Druidenschamanen, die zu ihm gekommen waren, und sie verehrten ihn als ein Zeichen der Götter oder vielleicht sogar einen der Götter selbst.
Das Herz war damit durchaus zufrieden; es war verloren und fern der Heimat und geschwächt von seiner langen Reise. Es war auf unsere Welt gekommen auf der Flucht vor etwas anderem. Etwas, wovor das Herz immer noch sehr viel Angst hatte. Also schlug es den Druidenschamanen einen Handel vor. Es würde sie mächtig machen, sie zu Göttern unter ihrer eigenen Art machen, und dafür würden sie das Herz verehren und gegen alle Feinde schützen. In dieser Welt … und außerhalb.
Das Herz gab den Druiden ihre lebende Rüstung, und sie wurden mehr als Menschen.
Ursprünglich benutzten die Schamanen die Rüstung nur, um die Stämme gegen die dunklen Kräfte und Mächte des Bösen zu schützen, die sich in jenen Tagen noch offener in der Welt bewegten. Aber die Rüstung machte diese Droods sehr mächtig, und jede Macht verleitet … Die größte Bedrohung für die Stämme waren die einmarschierenden Römer, aber die Schamanen waren klug genug, um zu wissen, dass nicht einmal die goldene Rüstung die römischen Heere für immer aufhalten konnte. Also gingen sie zu den Römern und schlossen einen Handeclass="underline" Rom sollte herrschen … durch die Droods, und so wären die Stämme vor der ärgsten Macht Roms geschützt. Als fünf Jahrhunderte später das Römische Reich endgültig niederging und zerfiel und die römische Amtsgewalt Britannien verließ, machten die Droods einfach weiter. Operierten im Geheimen, um die Stämme vor allen Bedrohungen zu schützen, von außen … und von innen.