»Der Rat und die Matriarchin«, sagte Onkel James. »Du hast so ziemlich jeden stocksauer auf dich gemacht, Eddie.«
»Kennst du das Geheimnis der Schriftrolle?«, fragte ich. »Die Wahrheit hinter der Rüstung und dem Herzen?«
»Natürlich kenne ich das. Es ist das Erste, was sie einem erzählen, wenn man Ratsmitglied wird.«
Ich hob eine Augenbraue. »Es war mir nicht bewusst, dass es Frontagenten erlaubt ist, im Rat zu dienen.«
»Für Ausnahmepersonen werden Ausnahmen gemacht«, sagte James. Er prahlte nicht, er führte nur eine Tatsache an.
»Was hast du gemacht?«, fragte ich. »Als du es herausgefunden hast, das mit all den Kindern, die geopfert worden sind, damit wir werden konnten, was wir sind?«
»Oh, ich war schockiert«, antwortete Onkel James. »Entsetzt. Aber ich kam darüber hinweg. Genau wie du rechtzeitig darüber hinwegkommen wirst. Der ursprüngliche Handel wurde in einer einfacheren, wilderen Zeit von wilden Menschen gemacht. Aber die Familie ist zu wichtig geworden, zu notwendig, als dass man das Risiko eingehen dürfte, diesen Handel aufzukündigen. Es ist nicht mehr nur der Stamm, den wir beschützen - wir beschützen die Menschheit. Wir haben eine Verpflichtung, eine Verantwortung, uns zwischen sie und die Mächte der Finsternis zu stellen, von denen sie nie etwas erfahren darf. Und das Geheimnis … ist bloß ein Teil der Bürde, die wir tragen müssen, damit wir tun können, was getan werden muss.«
»Wie beispielsweise die Welt von hinter den Kulissen aus zu regieren?«, warf Molly ein. »Wie alles gnadenlos auszumerzen, was nicht euren engstirnigen Maßstäben dessen, was akzeptabel ist, genügt?«
»Sich aufzuregen ändert gar nichts«, sagte Onkel James, wobei er nach wie vor nur mich ansah. »Es wird deinen oder meinen Zwillingsbruder nicht zurückbringen. Sie sind gestorben, damit wir die Rüstung tragen können, damit wir eine Streitmacht für das Gute sein können in einer Welt, die uns jetzt mehr denn je braucht. Wir können es nicht allen in der Familie erzählen, Eddie; das musst du wissen. Die meisten haben keine Ahnung, wie es draußen in der Welt zugeht. Sie würden nicht verstehen … wie unumgänglich manche Dinge sein können. Deshalb wissen nur die Matriarchin und der Rat Bescheid: diejenigen unter uns, die ihren Wert durch langen Dienst an der Familie bewiesen haben. Und an der Welt. Wir tragen die Last der Wahrheit, damit andere es nicht müssen. Damit wir damit fortfahren können, Tag für Tag die Welt zu retten.«
»Das ist alles?«, fragte ich. »Der Zweck heiligt die Mittel? Na komm schon, Onkel James, das kannst du doch besser!«
»Ich habe darauf bestanden, dass sie mich hierherschicken«, fuhr Onkel James eindringlich fort, »weil ich der Einzige bin, der dich nicht sofort niederschießen würde. Ich musste mit dir reden, Eddie, es dir begreiflich machen. Ich will dich nicht töten müssen, Eddie; nicht, wo du noch so viel für die Familie tun könntest. Du hast so viel Potenzial … und du erinnerst mich so sehr an deine Mutter.«
»Fang nicht damit an!«, sagte ich, und ich konnte hören, wie kalt meine Stimme war.
Er schreckte nicht davor zurück. »Meine Schwester war eine der besten Frontagentinnen ihrer Generation«, redete Onkel James weiter. »Da war es nur plausibel, dass auch ihr Sohn etwas Besonderes sein würde. Ich habe dich aufgezogen, Eddie; habe dir alles beigebracht, was ich wusste. Ich habe in dir immer … den Sohn gesehen, den ich niemals hatte.«
»Du hast mich dazu erzogen, Recht von Unrecht unterscheiden zu können«, erwiderte ich, »das Böse zu bekämpfen, wo immer ich es antreffe. Und genau das mache ich gerade, Onkel James.«
»Wir sorgen dafür, dass die Welt sicher bleibt!«, sagte Onkel James fast flehentlich. »Wir beschützen die Menschheit vor all den Mächten, die sie vernichten würden, wenn wir nicht da wären!«
»Ihr seid eine der Mächte, die uns vernichten würden«, korrigierte Molly.
Onkel James ignorierte sie immer noch, konzentrierte sich nur auf mich. »Jemand muss die Aufsicht führen, Eddie. Man kann nicht darauf vertrauen, dass die Politiker das Richtige tun, nicht, wenn es so viel leichter ist, das Vorteilhafte zu tun. Hast du überhaupt eine Vorstellung davon, wie viele Kriege wir über die Jahrhunderte verhindert haben, indem wir hinter den Kulissen tätig waren? Wie viele Weltkriege nie stattgefunden haben dank uns? Es gab Zeiten, wo die Familie alles war, was zwischen der Menschheit und ihrem völligen Untergang stand! Unsere Vergangenheit mag nicht lupenrein sein, aber die Welt wäre ein weitaus schlechterer Ort ohne uns.«
»Das wissen Sie doch gar nicht!«, entrüstete sich Molly. »Nicht mit Sicherheit jedenfalls. Wer kann schon sagen, was für eine Welt wir uns geschaffen hätten, wenn wir gezwungen gewesen wären, unsere eigenen Fehler zu machen und daraus zu lernen?«
»Wir waren immer Kämpfer für das Gute!«, sagte Onkel James und blickte mir fest in die Augen.
»Ja«, stimmte ich ihm zu, »im Großen und Ganzen waren wir das, denke ich. Aber der Preis … ist zu hoch. Man kann nicht nur ein bisschen korrupt sein, Onkel James. Vielleicht ist das der Grund, weshalb wir, wenn wir auch anfänglich nur Diener und Beschützer der Welt waren, mittlerweile ihre Geschicke lenken.«
»Bitte!«, sagte er. »Gib auf! Zwing mich nicht dazu, dich zu töten, Eddie! Wir können das immer noch aus der Welt schaffen; es ist noch nicht zu spät! Ich werde vor dem Rat für dich sprechen. Deine Großmutter ist kein Monster, Eddie; wenn sie eine Möglichkeit sieht, dich zu retten, dann wird sie es machen. Du weißt, dass sie es machen wird!«
»Ich kann nicht zulassen, dass es so weitergeht«, sagte ich. »Nicht mehr jetzt, wo ich es weiß. Ich bin hier, um die Welt zu befreien, Onkel James, um alle Ketten der Menschen zu sprengen und sie in Freiheit leben zu lassen. Wir sollten die Schäfer der Welt sein, nicht ihre Gefängniswärter! Aus uns ist genau das geworden, was zu bekämpfen wir erzogen wurden. Die Familie muss gestürzt werden, für das, was sie der Welt und sich selbst angetan hat - und mir. Keine Lügen mehr, Onkel James. Keine toten Babys mehr. Keine Droods mehr, die unwissentlich in den lebenden Häuten ihrer ermordeten Zwillinge herumlaufen. Das hier sollte nur zwischen dir und mir ausgetragen werden, Onkel James. Lässt du Molly gehen? Wenn sie sich einverstanden erklärt, einfach zu verschwinden?«
»Tut mir leid«, sagte er, und er klang, als ob er es so meinte. »Du weißt, dass ich sie nicht fortlassen kann, Eddie. Nicht jetzt, wo sie das Geheimnis kennt. Wenn sie sich auf deine Seite stellt, dann stirbt sie auch an deiner Seite. Aber … wenn du in die Familie zurückkämst, dann könnte vielleicht etwas arrangiert werden … Als deine Frau würde sie auch zur Familie gehören.«
»Augenblick mal!«, empörte sich Molly.
»Sei still, Kind!«, sagte Onkel James. »Ich versuche, dir das Leben zu retten. Ihr beide könntet das Herrenhaus nie wieder verlassen, aber ihr könntet dennoch lange, nützliche, produktive Leben hier führen.«
»Und der Familie dienen«, ergänzte ich.
»Jawohl.«
»Für die Droods arbeiten?«, fragte Molly. »Da scheiß ich drauf! Lieber sterbe ich! Nichts für ungut, Eddie.«
»Ich muss tun, was richtig ist«, sagte ich. »Ich muss das Böse bekämpfen, wo immer ich es antreffe. Genau wie du es mich gelehrt hast, Onkel James.«
»Eddie …«, sagte er und machte einen Schritt nach vorn.
»Es tut mir leid.«
»Mir auch.« Onkel James seufzte schwer, doch seine Stimme war ruhig und seine Augen so kalt, dass er fast desinteressiert schien. »Mach dir nicht die Mühe hochzurüsten, Eddie. Diese Pistole kam vor langer Zeit vom Waffenschmied. Er hat mir ein paar spezielle rüstungsdurchdringende Kugeln aus fremder Materie gemacht. Sie werden deine Rüstung glatt durchschlagen, genau wie der Pfeil auf der Autobahn.«
»Du hast die ganze Zeit von dem Hinterhalt gewusst!«, sagte ich, beinah überrascht festzustellen, dass ich nach so vielen Geheimnissen noch schockiert sein konnte. »Hast du gewusst, dass der Pfeil etwas von sich in meinem Körper zurücklassen und mich vergiften, mich ganz langsam töten würde?«