Und schon bald kamen sie durch die große Doppeltür in den gewaltigen leeren Raum des Sanktums geströmt, einzeln und zu zweien, dann in Gruppen und schließlich in Massen, bis sich eine stete Flut von verwirrten Droods durch die beiden Türöffnungen drängte. Viele unter ihnen blickten immer noch ganz entgeistert wegen des plötzlichen Verlusts ihrer Torques. Zum ersten Mal in ihrem Leben fühlten sie sich völlig wehrlos und verwundbar, und sie hatten Trost und Antworten bitter nötig. Schnatternd und laut rufend kamen sie herein, nur um augenblicklich in Murmeln und Raunen zu verfallen, als sie sahen, wer sie erwartete: der Vogelfreie der Familie, das Gespenst der Familie, der blutverschmierte Waffenschmied und die berüchtigte Molly Metcalf. Welche Antworten sie hier auch erhalten mochten, sie würden bestimmt nicht besonders beruhigend sein. Immer noch strömten sie unaufhörlich ins Sanktum, Haus-Droods und Sicherheits-Droods, Forscher und Planer und Hauspersonal und alle anderen Mitglieder der Familie. Bis hin zu einigen Kindern mit extrem weit aufgerissenen Augen, die kleinsten darunter getragen auf den Armen ihrer Eltern. Das Sanktum füllte sich von Wand zu Wand mit Droods, die sich Schulter an Schulter drängten, während weitere durch die Eingänge hereinguckten.
»Fang an«, forderte der Waffenschmied mich auf, »bevor noch jemand in der Menge erdrückt wird!«
Ich schaute Molly an, und sie beschwor eine unsichtbare Plattform für uns vier herauf, auf die wir uns stellten, und hob sie dann mehrere Fuß in die Höhe, sodass alle mich sehen und hören konnten.
»Es ist hilfreich, dass alle zu uns aufsehen müssen«, raunte sie mir ins Ohr. »Verschafft uns einen psychologischen Vorteil. Und jetzt leg los; versprich ihnen Brot und Spiele oder so was!«
»Apropos sehen«, meinte der Waffenschmied ein klein wenig gereizt. »Könntest du den Rändern dieser verdammten Plattform vielleicht ein bisschen Farbe geben, damit einige unter uns sehen können, wo die Saudinger sind? Man könnte ziemlich tief fallen, und einige unter uns fühlen sich im Moment ein bisschen zerbrechlich!«
Unvermittelt leuchteten die Ränder der Plattform grellsilbern auf. Sie waren viel näher, als mir klar gewesen war.
Der Raum war jetzt zum Bersten voll und auch vor den geöffneten Türen drängten sich noch Droods. Das Gemurmel drohte ständig zu mehr auszuarten, tat es jedoch nicht, denn jedes Mal, wenn jemand anfing, die Stimme zu heben, musste er feststellen, dass Jacob ihn anfunkelte, und plötzlich überlegte er es sich anders und brachte kein Wort mehr heraus. Gänzlich verstummte die Menge, als schließlich die Matriarchin eintraf und sich ihren Weg ins Sanktum bahnte. Alle machten so viel Platz, wie sie konnten, um sie vorbeizulassen. Sie erreichte die vorderste Reihe der Menschenmenge und starrte wütend zu mir auf meiner Plattform hoch. Statt Alistair stand der Seneschall an ihrer Seite. Sein Gesicht war geschwollen und voller blauer Flecken, doch sein Blick war kalt und direkt wie immer. Ich nickte der Matriarchin zu.
»Hallo, Großmutter. Wie geht es Alistair?«
»Er lebt. Gerade so. Er ist in der Krankenstube; sie versuchen, sein Gesicht zu retten.«
»Er hat mich überrascht«, sagte ich, wobei ich mir der Tatsache bewusst war, dass jeder im Sanktum an unseren Lippen hing. »Am Ende war er ein guter Mann und treu.«
»Das habe ich immer gewusst«, erwiderte die Matriarchin. »Er hat der Familie gedient - anders als du. Was hast du uns angetan, Eddie? Wo sind unsere Torques? Wo ist das Herz?«
»Deshalb seid ihr alle hier«, sagte ich. »Um endlich die Wahrheit zu erfahren.« Ich ließ meinen Blick über die Menge schweifen, über all die verwirrten, verängstigten, verzweifelten Gesichter. »Ihr seid hier, um die Wahrheit zu erfahren über alles, was geschehen ist. Alles, was vor euch verborgen wurde, durch all die Jahrhunderte des Bestehens dieser Familie hindurch. Die Geheimnisse, die nur ein Drood euch verraten kann.«
»Wir kennen dich«, sagte eine weiblich Stimme tief in der Menge. »Aber was hat die berüchtigte Molly Metcalf da oben bei dir zu suchen?«
Ein allgemeines Raunen der Zustimmung folgte dieser Frage, das schnell verebbte, als Molly mit den Fingern schnippte und die Frau in der Menge laut quiekste, weil all ihre Kleider plötzlich verschwunden waren. Molly lächelte zuckersüß in die Menge.
»Sonst noch Fragen? Ich liebe es, Fragen aus der Menge zu beantworten!«
Und während die Menge still war, erzählte ich ihnen alles.
Ich erzählte ihnen, was das Herz wirklich gewesen war und von der wahren Natur des Handels, der uns allen unsere Torques beschert hatte. Es gab Laute des Erschreckens und schockierte Aufschreie, aber niemand zweifelte meine Worte an. Ich erzählte ihnen, wie der Handel von jeder neuen Matriarchin bekräftigt werden musste, und jedes Auge im Raum richtete sich auf Martha Drood. Sie ignorierte sie alle und starrte mich kalt an. Ich erklärte, wie ich das Herz zerstört hatte und wieso sie nicht alle gestorben waren, als ihre Torques verschwanden. Und dann verriet ich ihnen das letzte schreckliche Geheimnis der Droods, das nur dem inneren Zirkel bekannt war: Dass wir nicht die geheimen Beschützer der Welt waren, sondern ihre geheimen Herrscher.
Ich glaube, spätestens da wäre es zu einem Tumult gekommen, denn verschiedene Splittergruppen in der Familie schrien und drängten gegeneinander, aber Jacob erhob sich plötzlich in die Luft und nahm wieder seine totenähnliche Erscheinung an. Die Temperatur im Sanktum sackte rapide ab, und wir erschauerten alle, und das nicht nur vor Kälte: Der Tod war zugegen und blickte uns ins Auge. Mit nicht mehr menschlichen Augen starrte Jacob um sich, und alle wurden ganz still und ganz ruhig, denn keiner wollte seine Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Langsam sank Jacob wieder auf die Plattform herunter und nahm seine übliche Gestalt an.
Aus dem Schweigen erhob sich eine Stimme: Die Matriarchin verfluchte mich, bezichtigte mich des Verrats an der Familie, nannte mich einen Narren und einen Lügner und einen Feind von allem, wofür die Droods standen. Sie sagte, ich sei kein Enkel von ihr, und rief alle Droods auf, sich zu erheben und mich herunterzuzerren und zu töten. Ihre Stimme wurde immer lauter, schrill vor Wut und Hysterie, Spucke flog ihr aus dem Mund, bis plötzlich der Seneschall ihr eine Hand auf die Schulter legte und sie ordentlich durchschüttelte. Sie verstummte abrupt und sah ihn schockiert an. Der Seneschall ließ sie los und kehrte ihr den Rücken zu, um sich an die Menge zu wenden.
»Ihr alle kennt mich«, sagte er, und seine vertraute raue Stimme fesselte die Aufmerksamkeit aller. »Ihr alle wisst, wofür ich eintrete. Und ich sage euch, Edwin hat sich das Recht verdient, angehört zu werden! Er ist der treueste Sohn, den diese Familie jemals gehabt hat! Mach weiter, Junge! Erzähl ihnen, was sie wissen müssen!«
»Danke«, erwiderte ich. »Aber wohlgemerkt, ich hasse dich trotzdem wie die Pest!«
»Das bringt die Arbeit halt so mit sich«, meinte er völlig unbekümmert. »Tempo jetzt!«
Also erzählte ich ihnen den Rest: Wie ich unbegründet von der Null-Toleranz-Fraktion geächtet worden war, die insgeheim das Manifeste Schicksal leitete. Das sorgte jetzt wirklich für helle Aufregung; sie wussten alle, wofür Truman und seine Leute sich einsetzten.
»Wir sind angelogen worden«, sagte ich schließlich müde. »Wir sind nicht, wer wir zu sein glaubten. Wir sind nicht die Guten und sind es auch seit Jahrhunderten nicht mehr gewesen. Aber wir können es sein; wir können sein, wozu wir bestimmt waren. Wenn ihr bereit seid, dafür zu kämpfen!«