»Nicht die geringste Chance. Ich wollte schon immer mal einen Drood töten.«
Er eröffnete das Feuer mit einer Maschinenpistole und bespritzte mich mit Kugeln. Sie prallten von meinem gepanzerten Gesicht und Brustkorb ab, und ich ging mitten in den Kugelregen hinein und schlug ihm die Waffe aus der Hand. Er hieb nach mir mit einem leuchtenden Messer, aber auch die Zaubersprüche, mit denen die Schneide verzaubert war, reichten nicht aus, um mehr als einen Funkenschauer hervorzurufen, als die Klinge über meine Kehle glitt. Ich griff nach dem Amulett um Archies Hals, aber im letzten Moment rutschte meine Hand zur Seite. Das Amulett hatte ernst zu nehmende Schutzzauber.
Archie schlug mir an den Kopf, und hinter dem Schlag steckte die ganze Kraft seines Körpers. Ich hörte die Knöchel brechen. Ich zuckte nicht einmal zusammen. Ich packte ihn an den Schultern und schleuderte ihn an die nächste Wand. Er knallte so hart dagegen, dass ihm schlagartig die Luft weg blieb und der Verputz Risse bekam. Ich schickte mich an, an ihm vorbeizugehen, in der Hoffnung, dass es vorüber wäre, doch er stand schwankend wieder auf, womit er die Reserven seines Körpers gefährlich beanspruchte, und hatte eine Hand voll Plastiksprengstoff. Er klatschte ihn gegen meine gepanzerte Brust, und das Zeug blieb hängen. Archie lachte heiser, als ich versuchte, das klebrige Zeug abzuziehen, aber es bewegte sich nicht von der Stelle. Archie hielt den Sprengzünder vor mir hoch und schwenkte ihn höhnisch.
An meiner Brust hing genug Sprengstoff, um den größten Teil dieses Stockwerks in die Luft zu jagen. Meine Rüstung würde es aushalten … aber der Detonationsradius würde beinah sicher die halbe Untermauerung Saint Baphomets kosten und sämtliche oberen Stockwerke herunterkrachen lassen. Hunderte von Toten, vielleicht mehr, die meisten davon wahrscheinlich Unschuldige. Archie war das egal; er würde einfach in einen anderen Körper springen. Hunderte konnten draufgehen, solange er sich damit brüsten konnte, einen Drood getötet zu haben. Ihm war es egal. Mir nicht.
Ich packte Archie noch einmal an den Schultern und zog ihn zu mir heran, knallte seine Brust gegen meine, und der Plastiksprengstoff wurde zwischen uns zerquetscht. Er wehrte sich heftig, aber ich hielt ihn mühelos mit einem goldenen Arm fest. Er schrie in kleinlicher Wut auf, als ihm aufging, was ich vorhatte, und dann schloss sich meine freie Hand über seiner und aktivierte den Sprengzünder.
Meine Maske verdunkelte sich kurz, um meine Augen und meine Ohren vor der Grelle der Explosion und der Druckwelle zu schützen, und als ich wieder sehen und hören konnte, war ich von Rauch und Trümmern und kleinen blutigen Klumpen dessen umgeben, was Archie Leechs gestohlener Körper gewesen war. Meine Rüstung und sein Körper hatten den größten Teil der Explosion absorbiert, und die Wände um mich herum sahen vernarbt, aber immer noch stabil aus. Das Hospiz würde stehen bleiben. Archie war natürlich hin; seine Seele wehte zu seinem nächsten Schlupfloch, zusammen mit dem Amulett. Ich hatte keinen Zweifel daran, dass ich sie beide wiedersehen würde, eines Tages.
Noch einmal erscholl das Geräusch einer verdammten Menge rennender Füße, die sich schnell von oben näherten. Die Sicherheitskräfte hier waren äußerst beharrlich, das musste man ihnen lassen. Ich nahm die tragbare Tür aus meiner Tasche und klatschte sie auf den Boden, wo sie augenblicklich zu einer netten neuen Falltür wurde. Ich öffnete sie, ließ mich durchfallen bis ins Kellergeschoss und zog dann die tragbare Tür von dem ab, was jetzt meine Decke war. Sollten sie ruhig die Trümmer nach meiner Leiche durchwühlen, während ich gelassen meinen Weg die Hintertreppe hoch machte und direkt an ihnen vorbei zum nächsten Ausgang ging.
Dieser erwies sich als die Hintertür, und ich schlüpfte lautlos auf den Platz dahinter hinaus, wo Dr. Dees Hund aus der Hölle mir auflauerte. Der Lärm und das Getümmel im Haus nebenan hatten offensichtlich seine Aufmerksamkeit erregt. Er knurrte stetig, wie lang anhaltendes Donnergrollen, nah und bedrohlich, und sein gewaltiger Rachen öffnete sich und entblößte dabei mehr Zähne, als schlechterdings möglich schien. Er funkelte die Tür an, die sich gerade vor ihm geöffnet hatte, konnte mich aber nach wie vor nicht sehen oder hören oder riechen … Also hielt ich die Tür auf und ließ den Dämonenhund geradewegs an mir vorbei- und weiter ins Hospiz hineinstürmen. Wo zweifelsohne den Sicherheitskräften etwas einfallen würde, um ihn zu beschäftigen. Ich tue mein Möglichstes, aber manchmal bin ich wirklich keine sehr nette Person. Leise schloss ich die Tür hinter dem Dämonenhund und schlenderte fort.
Ich schaltete meine Rüstung aus, und im Nu war sie wieder nur ein goldenes Halsband um meinen Hals. Und ich war wieder nur ein Mann mit den Grenzen eines Mannes. Manchmal ist das eine Erleichterung. Ich verließ die Seitengasse und trat ohne Eile auf die Harley Street hinaus. Die gleichen Leute gingen auf und ab, ohne eine Vorstellung davon, dass hinter ihren Rücken gerade die gesamte Weltgeschichte verändert worden war. Keiner von ihnen schenkte mir Beachtung. Ich war wieder mein altes, anonymes Ich. Niemand sieht je das Gesicht eines Droods, nur ab und zu die goldene Rüstung. Es reicht, dass die Welt beschützt wird; sie müssen nicht noch wissen, von wem.
Möglicherweise wären sie mit einigen unserer Methoden nicht einverstanden.
Kapitel Drei
Abhängen im Wolfskopf
Ich verschwand unten in der U-Bahn, mischte mich unter die Menge und nahm die nächste Bahn zum Bahnhof Tottenham Court Road. Ich gesellte mich zu dem Heer von Leuten, die geschäftig die Oxford Street auf und ab eilten, bloß ein weiteres Gesicht unter vielen, und sah mir Schaufensterauslagen an, bis ich sicher war, dass mir niemand gefolgt war. Wenn man nämlich für die Drood-Familie arbeitet, ist der Rest der Welt normalerweise darauf aus, einen zu erwischen. Ich ging hinunter nach Soho. Die Stadt hat das, was einmal der letzte wirklich wilde Teil Londons war, luxussaniert, aber man kann immer noch Sünde, Geheimnisse und Anrüchigkeit in Hülle und Fülle dort finden, wenn man weiß, wo man suchen muss.
Ein kleines bisschen abseits, in einer Seitenstraße, in die sich nie ein Sonnenstrahl verirrt, liegt mein ausgesprochenes Lieblings-Internetcafé. Es ist ein Teil der Electronic-Village-Kette, aber ich mag es, weil es rund um die Uhr geöffnet hat, was Nachtschwärmern wie mir entgegenkommt. Das einzige Fenster in der Ladenfront ist übertüncht, und die Leuchtreklame über der Tür funktioniert schon seit Jahren nicht mehr. Die Leute, die hierherkommen, schätzen die Abgeschiedenheit, während sie merkwürdige, illegale und möglicherweise unnatürliche Sachen mit ihren Computern machen. Ich betrat das Café und blieb im Eingang stehen, damit meine Augen sich an die Düsterkeit gewöhnen konnten. Es gab Stühle und Tische und Computer und sonst rein gar nichts. Den überraschend großen Raum umgab ein Flair stiller Ehrfurcht, nicht unähnlich dem einer Kirche. Die Gäste saßen zusammengekauert über ihren leuchtenden Bildschirmen und hatten für diejenigen um sie herum weder Augen noch Ohren. Die einzigen Geräusche im Raum stammten vom schnellen Tippen auf Tasten und dem leisen Piepsen der Geräte.
Der Geschäftsführer des Cafés kam auf mich zu, um mich zu begrüßen. Willy Fleagal war von der hoch aufgeschossenen, schlaksigen Sorte, mit Bifokalbrille, hoher Stirn und Pferdeschwanz; er trug ein T-Shirt mit der Aufschrift Informationen wollen frei sein TM. Er bedachte mich mit einem breiten Lächeln und einem schlaffen Händedruck. Er kannte mich als Stammkunden mit besonderen Vorrechten, die mir von den Eigentümern der Kette zugesichert worden waren, aber das war auch schon alles, was er wusste. Ich hatte hie und da eine Bemerkung fallen lassen, der er entnehmen konnte, dass ich womöglich ein Enthüllungsjournalist war, der hinter den bösen Jungs in den Konzernen her war, und das gefiel ihm gut.
»Ja da schau her, aber hallöchen, Mr. Bond!«, sagte er, wobei er sich schwer um Fröhlichkeit bemühte, jedoch knapp scheiterte. Willy war ein alter Verschwörungstheorienfreak und neigte daher zu Depressionen, Schwermut und Trübsalblasen als natürlichen Standardeinstellungen. »Ist mir immer eine Freude, Sie hier drin zu sehen, Mann. Sind Sie sicher, dass Ihnen niemand gefolgt ist? Aber klar doch sind Sie sicher, aber klar doch!« Er zog einen tragbaren Scanner heraus und untersuchte meine Kleidung auf angebrachte Wanzen. Gehörte bei Willy alles zum Service.