Vogelscheuchenkörpern zu erlösen. Doch ich tat es nicht. Denn sie hatten meine Familie dort angegriffen, wo wir leben, und das vergeben wir niemals.
Wir hatten das Herrenhaus fast erreicht, als eine Stimme in meinem Ohr plötzlich sagte: Sorry! Das war's! Die Geschäfte rufen und ich muss fort! Hat Spaß gemacht; das müssen wir irgendwann mal wiederholen! Ich blickte nach unten, und das Abzeichen an meinem Revers war weg. Einfach so hatte das Confusulum mich verlassen. Kurz davor, das Zentrum der Macht meiner Familie zu betreten, waren Molly und ich auf uns allein gestellt. Was … einfach typisch für die Art war, in der mein Leben in letzter Zeit gelaufen war. Ich beschloss, Molly nichts davon zu sagen; sie würde sich nur unnötig aufregen.
Mit großen Schritten ging ich zum Hauptvordereingang, stieß mit einer schwungvollen Gebärde die Tür auf und marschierte in die Eingangshalle hinein. Molly konnte es nicht erwarten hereinzukommen und schob sich in ihrem Eifer sogar an mir vorbei. Ich schloss die Tür sorgfältig hinter uns, und der Hintergrundlärm von meiner Familie, die gegen den Drachen kämpfte, erstarb augenblicklich. Im Hausinneren war alles ruhig und friedlich, genau wie immer. Das langsame Ticken alter Uhren; der Geruch nach Bienenwachs und Möbelpolitur und Staub. Und dann trat der Seneschall aus seinem Sicherheitsalkoven, um sich vor mich zu stellen, und mir fiel wieder ein, weshalb ich damals überhaupt so froh gewesen war, dem Herrenhaus den Rücken zu kehren. Gewichtig stand er vor mir und versperrte mir den Weg, steif und förmlich wie immer in seiner altmodischen Butleraufmachung. Der Mann, der immer sehr viel mehr gewesen war als bloß ein Butler. Ich blieb ganz ruhig stehen. Ich trug immer noch meine Rüstung. Ich sah wie jeder andere Drood aus. Es bestand die Möglichkeit …
»Ich weiß, dass du es bist, Edwin«, sagte der Seneschall. »Ich erkenne dich an der Art, wie du dich bewegst. Du warst schon immer schlampig, undiszipliniert. Als die Verteidigungsanlagen des Grundstücks nichts mehr erfassen konnten, wusste ich, dass du es sein musst. Immer der Querdenker, der Leisetreter, der sich in den Schatten herumdrückt. Und deine Begleiterin ist die berüchtigte Molly Metcalf? Hast nicht lange gebraucht, um in schlechte Gesellschaft zu geraten. Ich wusste schon immer, dass du nichts taugst, Edwin. Schon als du noch ein kleiner Junge warst.«
Ich rüstete herunter, um ihn anzusehen. Ich wollte, dass er mein Gesicht sehen konnte. »Ich bin schon lange kein kleiner Junge mehr, Seneschall. Ich habe keine Angst mehr vor dir. Siehst du diesen Mann, Molly? Er hat mir das Leben zur Qual gemacht, als ich ein Kind war. Er hat allen das Leben zur Qual gemacht. Nichts, was wir als Kinder taten, war jemals gut genug für ihn. Weißt du, alle erwachsenen Familienmitglieder können sich über die Halsreifen der Kinder hinwegsetzen. So können sie uns disziplinieren, uns kontrollieren … Uns bestrafen. Wir sind eine sehr alte Familie, sehr altmodisch, und wir haben nie daran geglaubt, die Rute zu schonen. Und dieser Mann hier … liebte es, Kinder zu bestrafen. Für alles und nichts. Einfach, weil er es konnte. Als Kinder lebten wir alle in Furcht vor dem Seneschall.«
»Es war nur zu eurem Besten«, sagte der Seneschall gelassen. »Ihr musstet lernen. Und du warst immer außerordentlich begriffsstutzig, Edwin.«
Ich rüstete wieder hoch und hob die Faust. Goldene Dornen entsprangen den schweren Knöcheln. »Tritt zur Seite, Seneschall! Diesmal werde ich mich nicht aufhalten lassen!«
»Es ist noch nicht zu spät«, sagte der Seneschall. »Noch könntest du dich ergeben. Dich der Familienbestrafung unterwerfen. Für deine Verbrechen büßen.«
»Ich habe nie irgendwelche Verbrechen begangen! Nie! Die Familie hingegen schon.«
Der Seneschall seufzte. »Du hörst nie zu und du lernst nie dazu. Leg deine Rüstung ab, Edwin, oder ich werde deine Gefährtin leiden lassen!«
Er zog Waffen aus der Luft; sein einmaliges Talent, das ihm gegeben worden war, damit er das Herrenhaus beschützen konnte. In einer Hand erschien ein Gewehr, ein Flammenwerfer in der anderen. Er richtete beide auf Molly, und ich machte einen Sprung vorwärts, um sie zu beschützen. Kugeln schlugen gegen meine gepanzerte Brust und prallten ab, aber die Flammen fegten einfach an mir vorbei und gefährdeten Molly … nur um im letzten Moment abzudrehen, abgelenkt durch Mollys Magie. Sie stieß mit einer Hand nach dem Seneschall, und der unsichtbare Schlag ließ ihn zurücktaumeln. Molly lachte ihn aus.
»Meine Gefährtin kann für sich selbst sorgen«, sagte ich zum Seneschall.
»Verdammt richtig!«, bekräftigte Molly.
Der Seneschall setzte dazu an, innerlich die Worte zu sprechen, die seine Rüstung hochrufen würden. Er hätte das in dem Augenblick machen sollen, als er mich erkannte, aber in seinem Stolz sah er in mir immer noch das Kind, das gezüchtigt werden musste. Doch als er zu den Worten ansetzte, ließ Molly einen Rattenregen auf ihn niedergehen. Sie prasselten aus dem Nichts auf ihn herab, Ströme von großen, schwarzen Ratten, die mit Zähnen und Klauen in Schwärmen über ihn herfielen. Er schrie vor Schreck und Schmerz auf, schlug nach den Ratten und versuchte sie abzuschütteln, unfähig, sich lang genug zu konzentrieren, um die Worte zu sagen, die seine schützende Rüstung hochgebracht hätten. Er taumelte hin und her und versuchte sich die Ratten mit bloßen Händen vom Körper zu reißen. Eine schlug die Zähne tief in sein Handgelenk und blieb dort hängen und trat und wand sich, während er sich vergeblich bemühte, sie abzuschütteln. Eine andere zerrte an seinem Ohr. Blut lief ihm übers Gesicht, als sie seine Kopfhaut aufrissen.
Ich hätte gern eine Weile einfach nur dagestanden und ihn leiden sehen, aber die Zeit hatte ich nicht. Also trat ich vor und versetzte ihm einen krachenden Schlag. Die Kraft hinter der goldenen Faust riss ihm fast den Kopf ab; er knallte auf den Boden, wo er schwach zuckend liegen blieb. Molly ließ die Ratten mit einer Handbewegung verschwinden. Ich stellte mich über den Seneschall und blickte auf ihn herab, und es fühlte sich gut an, so gut, mich endlich für die Jahre der Verachtung und Schmerzen gerächt zu haben. Jetzt sah er nicht mehr annähernd so groß aus, wie ich ihn in Erinnerung hatte. Er war noch bei Bewusstsein - eben so.
»Wie viele Kinder hast du verprügelt, weil sie auf den Gängen herumgerannt sind?«, fragte ich ihn. »Wie viele hast du geschlagen, weil sie zu spät kamen oder nicht dort waren, wo sie sein sollten? Weil sie freche Antworten gaben? Weil sie es wagten, eigene Gedanken und Hoffnungen und Träume zu haben?«
Der Seneschall bewegte sich unter Schmerzen, und als er lächelte, lief ihm das Blut aus dem aufgeplatzten Mundwinkel. »Wir leben in einer erbarmungslosen Welt, Junge. Ich musste euch abhärten, damit ihr darin überleben konntet. Du hast deine Lektionen gut gelernt, Edwin. Bin stolz auf dich, Junge!«
»Wir waren bloß Kinder!«, brauste ich auf, aber er hatte das Bewusstsein verloren und konnte mich nicht mehr hören.
»Deine Familie hat eine echte Schwäche für Psychospielchen, was?«, meinte Molly.
»Nicht jetzt!«, sagte ich. »Bitte!«
Ich trat in den Sicherheitsalkoven des Seneschalls und öffnete den Kasten mit den Notalarmen. Er war so eingestellt, dass er sich für jeden öffnete, der einen Torques trug. Ich betrachtete die ganzen Schalter, die sich vor mir ausbreiteten, grinste und legte dann jeden einzelnen davon um. Innenalarme, Außenalarme, Feuer, Überschwemmung, Hexerei und Ludditen. (Ein paar unserer Alarme sind schon ziemlich alt.) Im gesamten Herrenhaus gingen Klingeln und Sirenen los, läuteten und heulten und schallten in einer fürchterlichen Kakophonie von Lärm. Lichter flammten auf und blinkten, Schutztüren schlugen zu, Stahlgitter krachten herunter und Familienmitglieder rannten hektisch hierhin und dorthin, verrückt gemacht von den kreischenden Alarmen. Ich hab ja schon immer gesagt, dass wir mehr Notfallübungen brauchen.