Ich ging mit Molly an meiner Seite dreist durch die Gänge und Korridore. Leute stürzten schreiend und gestikulierend an uns vorbei, aber keiner beachtete mich im Geringsten. Für sie war ich nur ein anderer Drood, anonym in meiner Rüstung. Und wenn Molly bei mir war, konnte es sich bei ihr nur um einen autorisierten Besucher handeln. In einem Notfall haben Menschen nur Zeit, das zu sehen, was sie zu sehen erwarten.
Ich führte Molly tiefer ins Herrenhaus hinein, und sie oohte und aahte, als sie das luxuriöse Mobiliar, die Porträts und Gemälde, die Statuen und Kunstwerke und die ganzen anderen Beutestücke, die sich meine Familie über die Jahrhunderte hinweg zugelegt hat, zu Gesicht bekam. Ich war mit all dem aufgewachsen, deshalb nahm ich es immer noch größtenteils als selbstverständlich hin und musste lächeln, wenn Molly über dieses oder jenes seltene Stück in Begeisterung und Verzückung geriet. Von ein paar Sachen, die sie sich näher ansehen wollte, musste ich sie sogar wegziehen. Wir mussten weiter; die Zeit war nicht auf unserer Seite. Molly zog eine widerspenstige Schnute, aber sie verstand.
»Betrachte mich als schwer beeindruckt!«, sagte sie. »Ich habe ja schon Geschichten über diesen Ort gehört, aber … ich hatte ja keine Ahnung! Hier gibt es Dinge, die man nicht mal in Museen findet! Gemälde bedeutender Künstler, die in keinem Katalog aufgeführt sind! So viele schöne Sachen … und dich lässt das vermutlich völlig kalt, du Banause! Kein Wunder, dass Sebastian einen so exzellenten Geschmack hatte! … Ich werde nicht hier weggehen, ohne mir ein paar Sachen in eine Tasche zu stopfen!«
»Später!«, sagte ich. »Wir müssen in die Waffenkammer!«
»Wieso?«
»Weil dort etwas ist, das ich brauche. Etwas, mit dessen Hilfe ich das Haus zu Fall bringen kann.«
Die Waffenkammer hätte eigentlich geschlossen sein müssen, abgesperrt, hermetisch verriegelt und bewacht; so jedenfalls sahen es die Notfallprotokolle vor. Ich hatte halb damit gerechnet, mir den Weg durch bewaffnete Wachen kämpfen und die explosionssicheren Türen mit meiner gepanzerten Stärke aufbrechen zu müssen. Oder auf Mollys Zauberkraft zurückgreifen zu müssen. Aber am Ende standen die schweren Türen sperrangelweit offen, völlig unbewacht, was … noch nie da gewesen war! Ich rückte langsam bis an die explosionssicheren Türen vor und spähte vorsichtig hinein: Alles deutete darauf hin, dass die Waffenkammer verlassen war. Ich bestand darauf, als Erster hineinzugehen, und indem Molly sich dicht hinter mich drängte und mir fast auf die Fersen trat, ließ sie keinen Zweifel an ihrem Missfallen diesbezüglich aufkommen.
Die Keller lagen wie ausgestorben da, alle Arbeitsplatzcomputer waren ausgeschaltet. Die Stille war unheimlich. Keine der üblichen Brände oder Detonationen oder plötzlichen überraschten Flüche. Ein einzelner Mann erwartete uns; er saß bequem in seinem Lieblingssessel direkt in der Mitte von allem. Mit gequältem Lächeln sah er zu, wie Molly und ich uns ihm vorsichtig näherten. Ein hochgewachsener Mann mittleren Alters mit Glatze und buschigen weißen Augenbrauen, der einen fleckigen weißen Laborkittel über einem T-Shirt mit dem Aufdruck Gewehre töten keine Menschen - wenn man nicht richtig damit zielt trug. Der Waffenschmied. Mein Onkel Jack. Ich hätte wissen müssen, dass er die Stellung halten würde, wo alle anderen geflohen waren.
»Hallo, Eddie«, sagte er ruhig. »Ich habe dich erwartet.«
Er hielt etwas in seiner rechten Hand hoch. Ein einfacher Knipser in der Form eines kleinen, grünen Froschs. Er klickte einmal damit, und meine Rüstung ging in meinen Torques zurück, einfach so. Sprachlos vor Erschütterung glotzte ich den Waffenschmied an, und er lachte leise.
»Bloß ein kleines Spielzeug, das ich schon vor langer Zeit zusammengebaut und bis jetzt für mich behalten habe. Schließlich weiß man nie, ob es sich nicht mal als nützlich erweist … Als ich sämtliche Alarme auf einmal losgehen hörte, wusste ich, dass du es sein musstest, Eddie. Du hattest immer einen Sinn fürs Dramatische. Warum bist du zurückgekommen? Du weißt, dass es den Tod für dich bedeutet, hier zu sein, jetzt wo du vogelfrei bist. Und warum hast du einen deiner ältesten Feinde in den geheimsten Teil des Herrenhauses mitgebracht?«
»Ich bin nicht mehr sicher, wer wirklich der Feind ist, Onkel Jack«, sagte ich. »Du kennst Molly Metcalf?«
»Natürlich weiß ich, wer sie ist, Junge. Ich kenne alle Namen von Bedeutung. Ich war zwanzig Jahre lang Agent an der Front, und ich blättere immer noch alle Berichte durch. Woher sollte ich sonst wissen, was ich für die heutigen Agenten entwerfen soll? Was macht die berüchtigte Molly Metcalf hier, Eddie?«
»Warum benutzen alle ständig dieses Wort?«, fragte Molly. »Ich bin nicht berüchtigt!«
»Sie ist mit mir zusammen«, sagte ich.
Der Waffenschmied lächelte unvermittelt. »Oh, so sieht's aus, tatsächlich? Naja, wurde ja auch langsam Zeit.« Er grinste Molly charmant an. »Sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen, meine Liebe. Ich fürchte, ich kenne Sie nur vom Hörensagen, und was man da so hört und sagt, ist recht furchteinflößend.«
»Ich habe mir meinen Ruf redlich verdient«, entgegnete Molly. »Obwohl ich mich selbst immer lieber als lustige Person gesehen habe.«
»Haben Sie wirklich die ganze Berkshire-Jagdgesellschaft für achtundvierzig Stunden in Füchse verwandelt?«
»Aber ja doch«, sagte Molly. »Ich dachte, es könnte ihnen ein wenig Einsicht verschaffen.«
»Gut für Sie, Mädchen«, sagte der Waffenschmied. »Habe die Fuchsjagd nie gebilligt. Barbarischer Sport, den heutzutage hauptsächlich durch Inzucht gezeugte Aristokraten und neureiche Arriviertenärsche ausüben. So, Eddie … hast du endlich eine Freundin mit nach Hause gebracht, um sie der Familie vorzustellen! Ich hatte schon angefangen, mir um dich Sorgen zu machen.«
»Sie ist nicht meine … na ja …«, sagte ich. »Wir arbeiten noch daran, was wir sind.«
»Genau«, stimmte Molly mir zu. »Es ist … kompliziert.«
»Was empfindest du für ihn, Molly?«, fragte der Waffenschmied und beugte sich vor.
»Ich mag ihn«, antwortete sie nachdenklich. »Wie einen großen, zottigen Hund, den niemand haben will, der aus dem Regen reingekommen ist, und man bringt es nicht übers Herz, ihn wieder rauszujagen.«
Der Waffenschmied zwinkerte mir zu. »Sie ist verrückt nach dir, Junge.«
»Wau, wau!«, sagte ich.
»Also, Bursche«, wandte sich der Waffenschmied energisch wieder dem Geschäft zu, »was zum Teufel machst du hier? Und was ist in dich gefahren, vorher hier anzurufen? Die Matriarchin ist stinksauer! Sie ist außer sich und hat Anweisung gegeben, dich beim ersten Anblick zu erschießen. Nur indem ich so wie jetzt mit dir rede, begehe ich schon Verrat an der Familie.« Er schnaubte verächtlich. »Als ob mich das davon abhalten würde! Ich habe nie jemand anderes gebraucht, um mir zu sagen, was im Interesse der Familie ist. Wenn du mich fragst, ist Mutter dieser Tage gar nicht da. Aber selbst dann kannst du nicht von mir erwarten, dass ich dir tatsächlich bei dem helfe, weswegen du hergekommen bist - was das auch sein mag. Du hättest nie zurückkommen dürfen, Eddie! Was um Gottes willen hast du hier zu finden geglaubt?«
»Waffenschmied«, sagte ich, »ich bin hierhergekommen, um nach der Wahrheit zu suchen. Genau, wie du es mich immer gelehrt hast, Onkel Jack.«
Er seufzte schwer und klickte noch einmal mit seinem grünen Frosch. »Ach, na schön; hier hast du deine Rüstung wieder. Ich weiß genau, dass ich das bereuen werde … Ich war schon immer weichherziger, als gut für mich war. Weshalb bist du hier runtergekommen, Eddie? Was willst du von mir?«
»Ich muss den wahren Grund herausfinden, weshalb man mich zum Vogelfreien gemacht hat«, sagte ich langsam. »Ich war nie ein Verräter an der Familie, Onkel Jack. Das weißt du.«