Wächter des Zwielichts
Der vorliegende Text ist für die Sache des Lichts belanglos.
Der vorliegende Text ist für die Sache des Dunkels belanglos.
Erste Geschichte
Niemandszeit
Prolog
Irgendwann zwischen Wyssozki und Okudshawa sind in Moskau die echten Höfe verschwunden.
Seltsam. Selbst nach der Revolution, als man der Küchenfron den Kampf ansagte und zu diesem Zwecke in den Häusern die Küchen abschaffte, tastete man die Höfe nicht an. Zu jedem stolzen Stalinbau, der seine Potjomkin'sche Fassade dem nächstgelegenen Prospekt zuwandte, gehörte unbedingt ein Hof. Ein großer grüner Hof mit kleinen Tischen und Bänken und mit einem Hausmeister, der morgens den Asphalt fegte. Dann brach die Zeit der vierstöckigen Plattenbauten an - und die Höfe schrumpften in sich zusammen, wurden kahl, die einst so gemütlichen Hausmeister wechselten das Geschlecht und verwandelten sich in Hauswartinnen, die es für ihre Pflicht hielten, übermütigen Jungs die Ohren lang zu ziehen und die Mieter zu tadeln, die betrunken nach Hause kamen. Trotzdem gab es noch Höfe.
Doch dann - als habe jemand aufs Gaspedal gedrückt - schossen die Häuser in die Höhe. Erst neun, dann sechzehn und schließlich vierundzwanzig Etagen. Als werde jedem Haus mehr Raum, aber nicht mehr Fläche zugebilligt. Die Höfe verkümmerten bis auf den Platz direkt vorm Hauseingang, die Türen gingen jetzt direkt auf die Straße hinaus, Hausmeister und Hauswartinnen verschwanden, an ihre Stelle traten die Angestellten der Wohnungsverwaltung.
Freilich, später kehrten die Höfe zurück. Jedoch - als nähmen sie es krumm, derart vernachlässigt worden zu sein - nicht zu allen Häusern. Die neuen Höfe säumte eine hohe Mauer, in der Pförtnerloge saßen geschniegelte junge Männer, unter englischem Rasen versteckte sich eine Tiefgarage. In diesen Höfen spielten die Kinder unter Aufsicht ihrer Kindermädchen, durch nichts zu erschütternde Bodyguards zogen betrunkene Mieter aus BMW und Mercedes, und die neuen Hausmeister beseitigten mit kleinen deutschen Fahrzeugen den Müll vom englischen Rasen. Das hier war einer jener neuen Höfe.
Die Hochhaustürme am Ufer der Moskwa kannte ganz Russland. Sie galten als das neue Symbol der Hauptstadt - anstelle des alten Kremls, der seinen Glanz eingebüßt hatte, und des GUM, das nun vom»zentralem zu einem ganz normalen Kaufhaus geworden war. Die Uferstraße aus Granit, eine eigene Anlegestelle, Hauseingänge mit venezianischem Stuck, Cafes und Restaurants, Schönheitssalons und Supermärkte und natürlich Wohnungen mit zwei-, dreihundert Quadratmetern. Wahrscheinlich brauchte das neue Russland ein solches Symbol, ein pompöses und kitschiges Symbol wie eine dieser dicken Goldketten, die all diejenigen um den Hals trugen, die gerade zu Geld gekommen waren. Und es spielte keine Rolle, dass ein Großteil der bereits vor einiger Zeit verkauften Wohnungen leer stand, die Cafes und Restaurants geschlossen waren und auf bessere Zeiten warteten und schmutzige Wellen die Anlegestelle aus Beton umspülten.
Der Mann, der an diesem warmen Sommerabend die Uferstraße entlangflanierte, hatte noch nie eine Goldkette getragen. Denn er verfügte über gutes Gespür, das ihm guten Geschmack vollauf ersetzte. Rechtzeitig hatte er den Adidas-Trainingsanzug aus China gegen ein himbeerfarbenes Jackett getauscht, um dann als Erster das himbeerfarbene Jackett zugunsten eines Anzugs von Versace wieder abzulegen. Selbst beim Sport war er andern immer eine Naselänge voraus. Einen Monat vor sämtlichen Kremlbeamten warf er den Tennisschläger in die Ecke, um alpinen Skilauf zu betreiben - obgleich er in seinem Alter Bergskiern nur noch dann etwas abgewann, wenn er sich nicht auf ihnen fortbewegte.
Außerdem zog er es vor, in einer Villa im moskaunahen Datschenviertel Gorki-9 zu leben und die Wohnung mit den Fenstern zum Fluss nur mit einer Geliebten aufzusuchen.
Von seiner Dauergeliebten wollte er sich übrigens auch trennen. Schließlich würde kein Viagra der Welt sein Alter besiegen, und eheliche Treue kam langsam wieder in Mode.
Der Chauffeur und der Bodyguard hielten recht großen Abstand zu ihm, damit sie die Stimme ihres Chefs nicht hören konnten. Und selbst wenn der Wind Bruchstücke seiner Worte zu ihnen hinübertrüge - was wäre schon so schlimm daran? Warum sollte ein Mensch nach einem Arbeitstag nicht mit sich selbst reden, wenn er in absoluter Einsamkeit über den plätschernden Wellen stand? Schließlich gibt es keinen verständnisvolleren Gesprächspartner als das eigene Ich.
»Und trotzdem wiederhole ich meinen Antrag…«, sagte der Mann. »Noch einmal.«
Matt leuchteten die Sterne, die den städtischen Smog durchdrangen. Am andern Ufer des Flusses schimmerten die winzigen Fenster der hoflosen Hochhäuser. Von den hübschen Laternen, die sich die Anlegestelle entlangzogen, brannte jede fünfte - auch das nur, weil es dem großen Mann eingefallen war, am Fluss spazieren zu gehen. »Ich wiederhole es noch einmal«, sagte der Mann leise.
Die Wellen klatschten an den Kai - und mit ihnen die Antwort. »Das ist unmöglich. Absolut unmöglich.«
Den Mann am Ufer verwunderte die Stimme aus der Leere nicht im Geringsten. Er nickte. »Was ist mit den Vampiren?«, fragte er dann.
»Stimmt, das wäre eine Möglichkeit«, räumte der unsichtbare Gesprächspartner ein. »Die Vampire könnten Sie initiieren. Wenn Sie sich mit einer Existenz als Untoter abfinden… Nein, ich werde Sie nicht anlügen. Das Sonnenlicht ist ihnen unangenehm, tötet sie aber nicht, und auch auf Risotto mit Knoblauch müssen sie nicht verzichten…«
»Was ist es dann?«, erkundigte sich der Mann, der unwillkürlich die Hand auf die Brust legte. »Die Seele? Die Notwendigkeit, Blut zu trinken?«
Die Leere lachte leise. »Sie würden nur noch Hunger kennen. Ewigen Hunger. Und innere Leere. Das würde Ihnen nicht gefallen, das weiß ich. »
»Was käme sonst in Frage?«, bohrte der Mann weiter.
»Tiermenschen«, erwiderte der Unsichtbare fast amüsiert. »Sie sind ebenfalls in der Lage, einen Menschen zu initiieren. Aber auch bei Tiermenschen handelt es sich um eine niedere Form der Dunklen. Die meiste Zeit ist alles wunderbar… Doch wenn ein Anfall naht, verlören Sie die Kontrolle über sich. Drei, vier Nächte im Monat. Manchmal seltener, manchmal öfter.«
»Bei Neumond«, meinte der Mann mit einem verständnisvollen Nicken.
Die Leere lachte erneut. »Nein. Die Anfälle der Tiermenschen sind nicht mit dem Mondzyklus verbunden. Sie werden das Nahen des Wahnsinns zehn bis zwölf Stunden vor der Verwandlung spüren. Aber einen genauen Zeitplan wird Ihnen niemand vorlegen können.«
»Kommt nicht in Frage«, sagte der Mensch kalt. »Ich wiederhole… meine Bitte. Ich möchte ein Anderer werden. Und zwar kein niederer Anderer, den Anfälle tierischen Wahnsinns packen. Aber auch kein großer Magier, der große Taten vollbringt. Sondern ein ganz gewöhnlicher, einfacher Anderer… Was ist das in Ihrer Klassifikation? Siebter Grad?«
»Das ist unmöglich«, antwortete die Nacht. »Ihnen fehlt jede Anlage zum Anderen. Wirklich jede. Ein Mensch kann Geige spielen lernen, selbst wenn er kein musikalisches Gehör hat. Er kann ohne die geringste Veranlagung Sportler werden. Aber Sie können kein Anderer werden. Sie gehören einfach einer andern Gattung an. Es tut mir sehr leid.«
Der Mann am Ufer lachte. »Nichts ist unmöglich. Wenn die niederen Anderen in der Lage sind, einen Menschen zu initiieren, dann muss es auch eine Möglichkeit geben, mich in einen Magier zu verwandeln.«Die Dunkelheit schwieg.
»Außerdem habe ich nicht gesagt, dass ich ein Dunkler werden möchte. Ich verspüre nicht den geringsten Wunsch, unschuldiges Blut zu trinken, Jungfrauen über Felder nachzujagen oder mit ekelhaftem Gelächter Schadzauber zu wirken«, sagte der Mann verärgert. »Ich würde viel lieber Gutes tun… Kurzum, Ihre internen Streitigkeiten sind mir völlig einerlei. »
»Das…«, sagte die Nacht müde.
»Das ist Ihr Problem«, erwiderte der Mann. »Ich gebe Ihnen eine Woche. Danach möchte ich eine Antwort auf meine Bitte bekommen. »