Ich spürte, dass dem Mann hauptsächlich der Ausdruck»allerlei Kleinkram«pikierte. Natürlich nagte hier niemand am Hungertuch. Aber sie schwammen auch nicht dermaßen im Geld, um hundert Dollar»Kleinkram«zu nennen.
»Verzeihen Sie einem alten Dummkopf«, bat ich seufzend und senkte den Kopf. »Ich habe wirklich… eine Belohnung anbieten wollen. Die ganze Woche bin ich zu Behörden gerannt, um meine Firma neu registrieren zu lassen… da muss das eine Art Reflex gewesen sein.«
Mit forschendem Blick sah mich der Chef der Security-Leute an. Schien ein wenig einzulenken.
»Meine Schuld«, bekannte ich. »Aber die Neugier hat mich einfach gepackt. Glauben Sie mir, ich habe die halbe Nacht nicht geschlafen, weil ich darüber nachgegrübelt habe…»
»Dass Sie nicht geschlafen haben, sehe ich«, versicherte der Mann mit einem Blick auf mich. Und dann hielt er es nicht mehr aus. Die Neugier im Menschen ist einfach nicht totzukriegen. »Was wollen Sie denn nun eigentlich wissen?«
»Meine Frau ist mit meiner kleinen Tochter auf der Datscha«, berichtete ich. »Ich bin verdonnert worden, mich hier um tausenderlei Dinge zu kümmern und aufzupassen, dass die Handwerker endlich fertig werden… Und dann bekomme ich plötzlich diesen Brief. Einen anonymen Brief. Geschrieben von einer Frau. Und in dem Brief… nun, wie soll ich Ihnen das erklären… ein Kilo Koketterie und ein halbes Kilo Versprechungen. Stellen Sie sich das doch mal vor: Eine schöne Unbekannte träumt davon, Sie kennen zu lernen, wagt es aber nicht, den ersten Schritt zu machen. Wenn ich die Augen offen halte und rausbekommen würde, von wem der Brief ist, dann bräuchte ich nur noch auf sie zuzugehen…«
In den Augen meines Gegenübers funkelte ein belustigtes Feuerchen auf. »Und Ihre Frau ist auf der Datscha?«, wollte er wissen.
»Ja«, nickte ich. »Sie dürfen nicht glauben… ich habe keine ernsthaften Absichten. Ich will nur wissen, wer die Unbekannte ist. »
»Haben Sie den Brief dabei?«, wollte der Security-Chef wissen.
»Den habe ich gleich weggeworfen«, gestand ich. »Nachher sieht meine Frau ihn noch… Und dann soll mal einer beweisen, dass da absolut nichts gewesen ist. »
»Wann ist er abgeschickt worden? »
»Vor drei Tagen. Von hier, von unserer Postfiliale aus.«Der Mann dachte nach.
»Der Kasten dort wird einmal am Tag geleert. Abends«, erklärte ich. »Ich glaube nicht, dass viele Leute die Post benutzen. Vielleicht fünf, sechs pro Tag… Wenn ich mir nur mal anschauen könnte…«Der Mann schüttelte den Kopf. Grinste.
»Ich verstehe ja, dass es nicht geht«, räumte ich traurig ein. »Aber vielleicht könnten Sie sich dann einmal alles ansehen? Vielleicht war da ja gar keine Frau. Möglicherweise erlaubt sich mein Nachbar einen Scherz mit mir. Er ist… ein sehr alberner Mensch.«
»Etwa der aus dem neunten Stock?«Der Security-Chef verzog das Gesicht.
Ich nickte. »Schauen Sie sich doch mal alles an… Sagen Sie mir einfach, ob da eine Frau war oder nicht…«
»Dieser Brief kompromittiert Sie doch, oder?«, wollte der Mann wissen.
»In gewisser Weise schon«, bestätigte ich. »Gegenüber meiner Frau.«
»Damit haben Sie einen triftigen Grund, die Aufzeichnung anzusehen«, beschloss der Security-Chef. »Vielen Dank!«, rief ich. »Vielen herzlichen Dank!«
»Sehen Sie, so einfach kann das gehen«, entgegnete der Mann, nachdem er nach einer Kunstpause auf einen Knopf an der Tastatur für seinen Computer gedrückt hatte. »Und Sie wedeln mit Geld… Damit sind Sie zu Sowjetzeiten durchgekommen… aber jetzt…«
Ich konnte mich nicht mehr beherrschen, erhob mich und stellte mich hinter ihn. Der Mann hatte nichts dagegen. Das Jagdfieber hatte ihn gepackt - anscheinend brachte er sich auf dem Gelände des Assol nicht gerade um vor Arbeit.
Auf dem Bildschirm erschien das Bild der Postfiliale. Zunächst aus einer Ecke, sodass hervorragend zu erkennen war, was die Angestellten gerade taten. Dann aus einer andern, mit Blick auf den Eingang und den Briefkasten.
»Montag. Acht Uhr«, verkündete der Security-Chef feierlich. »Wie jetzt weiter? Wollen Sie zwölf Stunden auf den Bildschirm starren?«
»Ach ja…«Ich spielte den Enttäuschen. »Daran habe ich gar nicht gedacht.«
»Dann drücken wir doch mal auf diesen Knopf… nein, auf diesen hier… Und was sehen wir dann?«Das Bild wackelte leicht.
»Was denn?«, fragte ich, als hätte ich für unser Büro nicht ein analoges System durchgesetzt.
»Der Bewegungssucher!«, rief der Security-Chef triumphierend aus.
Zum ersten Mal tat sich etwas um halb zehn. Ein orientalisch aussehender Arbeiter betrat die Post. Und gab einen ganzen Stapel Briefe auf.
»Das ist wohl nicht Ihre Unbekannte?«, stichelte der Security-Mensch. »Er gehört zu den Bauarbeitern im zweiten Block«, erklärte er mir dann. »Die schicken dauernd Briefe nach Taschkent…«Ich nickte.
Der zweite Besucher kam um Viertel nach eins. Ein mir unbekannter Mann, der höchst solide wirkte. Ihm folgte ein Bodyguard.
Der Mann steckte keinen Brief ein. Überhaupt verstand ich nicht, was er auf der Post wollte: vielleicht die jungen Frauen beglotzen oder das Territorium des Assol erkunden. Beim Dritten handelte es sich um Lass!
»Ach nee!«, rief der Security-Mann. »Ist das nicht Ihr Spaßvogel von Nachbar? Der nachts seine Liedchen schmettert?«Was bin ich bloß für ein miserabler Ermittler…»Ja!«, flüsterte ich. »Sollte er wirklich…»
»Gut, sehen wir mal weiter«, erbarmte sich mein Gegenüber.
Danach, nach einer zweistündigen Mittagspause, strömten etliche Leute herein.
Drei weitere Mieter steckten Briefe ein. Alles Männer, die sehr seriös wirkten.
Dann eine Frau. Von etwa siebzig Jahren. Kurz vor Feierabend. Eine dicke Alte in prachtvollem Kleid und mit riesigen, geschmacklosen Perlen. Dünnes silbergraues dauergewelltes Haar.
»Die doch wohl nicht?«, feixte der Mann. Er stand auf und klopfte mir auf die Schulter. »Und? Ob es noch etwas bringt, weiter nach der geheimnisvollen Flirterin zu suchen?«
»Ist schon alles klar«, entgegnete ich. »Da hat sich jemand einen Spaß erlaubt!«
»Halb so wild, ein Späßchen hat noch niemandem geschadet«, philosophierte der Mann. »Aber eine Bitte habe ich noch an Sie… Sehen Sie doch zukünftig bitte von zweideutigen Gesten ab. Legen Sie kein Geld auf den Tisch, wenn Sie nicht vorhaben, jemanden zu bestechen.«Ich ließ den Kopf hängen.
»Wir selbst sind es, die die Menschen verderben«, meinte der Security-Mann bitter. »Verstehen Sie das? Wir selbst! Wir bieten einmal Geld an, zweimal… und beim dritten Mal verlangt man es von uns. Dann geht das Lamento los; Was bloß aus den Menschen geworden ist… Sie sind doch ein guter Mensch! Ein Licht in der Dunkelheit!«Erstaunt blickte ich den Mann an.
»Doch, doch, ein guter Mensch«, versicherte der Mann. »Dafür habe ich ein Gespür. In zwanzig Jahren bei der Kripo habe ich manches gesehen… Machen Sie das einfach nicht wieder, ja? Säen Sie um sich herum nicht das Böse aus.«
Es war lange her, dass ich mich das letzte Mal so geschämt hatte.
Einen Lichten Magier darauf hinzuweisen, nichts Böses anzurichten!
»Ich werde mir Mühe geben«, versprach ich. Schuldbewusst schaute ich dem Security-Mann in die Augen. »Vielen Dank für Ihre Hilfe…«
Der Mann antwortete mit keinem Wort. Seine Augen wurden glasig, rein und leer wie bei einem Baby. Der Mund stand ihm leicht offen. Die Finger hielten die Armlehnen des Sessels gepackt, die Knöchel traten weiß hervor. Der Gefrierzauber. Nicht schwer, absolut üblich.
Hinter mir stand jemand. Am Fenster. Ich sah ihn nicht, spürte ihn nur mit dem Rücken…
So schnell ich konnte, sprang ich zur Seite. Dennoch bekam ich den eisigen Atem der Kraft mit, die auf mich gerichtet war. Nein, das war kein Gefrierzauber. Aber etwas Vergleichbares aus dem Repertoire der Vampire. Einer ihrer kleinen Späße.