Die Kraft glitt über mich hinweg. Und entlud sich in dem unglückseligen Security-Mann. Der von Geser gefertigte Schild tarnte mich nicht nur, sondern schützte mich auch!
Ich prallte mit der Schulter gegen die Wand. Gleichzeitig riss ich die Arme nach vorn, hielt aber in letzter Sekunde inne und schlug nicht zu. Blinzelte. Und zog den Schatten meiner Lider vor meine Augen.
Am Fenster stand ein Vampir mit vor Anspannung gebleckten Zähnen. Ein hochgewachsener, mit den Gesichtszügen eines vornehmen Europäers. Ein Hoher Vampir, da gab's keinen Zweifel. Nicht so ein frühreifer wie Kostja. Mindestens dreihundert Jahre alt war er. Und seine Kraft hätte meine ganz bestimmt überstiegen.
Aber nicht Gesers! Dass ich ein Anderer war, konnte der Vampir nicht erkennen. Jetzt brachen all die unterdrückten Instinkte eines Untoten, die Hohe Vampire normalerweise im Zaum halten, aus ihm heraus. Keine Ahnung, was er in mir sah: einen besonderen Menschen, dessen Reaktionsvermögen sich mit dem eines Vampirs messen kann, ein mythisches»Halbblut«, das Kind einer Menschenfrau und eines Vampirmannes, einen nicht weniger phantastischen»Hexer«, der Jagd auf niedere Andere machte. Auf alle Fälle würde der Vampir keine Sekunde zögern, die Zügel schießen zu lassen und alles um sich herum kurz und klein zu schlagen. Sein Gesicht zerfloss - wie Knete, die über die Stirn eines Tierkopfs modelliert ist. Aus dem Oberkiefer ragten nun Eckzähne hervor, an den Fingern wuchsen ihm rasiermesserscharfe Krallen. Ein rasender Vampir ist etwas Schreckliches. Schlimmer ist nur noch ein abgeklärter Vampir.
Vor einem Duell mit unklarem Ausgang bewahrten mich meine Reflexe. Ich hielt mich zurück und schlug nicht zu, sondern schrie die traditionelle Formel bei einer Verhaftung heraus: »Nachtwache! Treten Sie aus dem Zwielicht!«
»Stopp!«, erklang in diesem Moment eine Stimme von der Tür her. »Das ist einer von uns!«
Erstaunlich, wie schnell sich der Vampir wieder im Griff hatte. Krallen und Eckzähne schrumpften ein, sein Gesicht schwabbelte, als sei es Sülze, während er nach und nach wieder den gefassten, vornehmen Ausdruck eines durch und durch erfolgreichen Europäers annahm. Und an diesen Europäer erinnerte ich mich noch gut: von der ruhmreichen Stadt Prag her, wo es das weltweit beste Bier und die weltweit schönste Gotik der Welt gibt. »Viteszlav?«, rief ich. »Was erlauben Sie sich denn?«
An der Tür stand natürlich Edgar. Der Dunkle Magier, der nach nur kurzer Arbeit in der Moskauer Tagwache zur Inquisition gewechselt war.
»Anton, das tut mir leid!«Der gelassene Balte wirkte in der Tat verunsichert. »Uns ist da ein kleiner Fehler unterlaufen. Das kann im Eifer des Gefechts schon mal vorkommen…«
Viteszlav war nun die Freundlichkeit in Person. »Nehmen Sie unsere Entschuldigungen an, Wächter. Wir haben Sie einfach nicht erkannt…«Sein Blick huschte rasch über mich hinweg, in seiner Stimme schwang Anerkennung mit. »Was für eine Tarnung… Meinen Glückwunsch, Wächter. Wenn das Ihre Arbeit ist, kann ich nur ehrfürchtig das Haupt neigen.«
Auf wen mein Schutzschild zurückging, erklärte ich nicht. Nur selten gelingt es einem Lichten Magier (und einem Dunklen übrigens auch, da braucht man kein Geheimnis draus zu machen), einen Inquisitor so befriedigend runterzuputzen.
»Was haben Sie dem Mann angetan?«, brüllte ich. »Er steht unter meinem Schutz!«
»Wie mein Kollege schon gesagt hat, dergleichen kann bei der Arbeit vorkommen«, erwiderte Viteszlav schulterzuckend. »Uns interessieren die Aufzeichnungen dieser Videokameras.«
Edgar schob den Sessel mit dem eingefrorenen Security-Mann kurzerhand zur Seite und kam auf mich zu. Lächelnd. »Es ist alles in Ordnung, Gorodezki. Wir bearbeiten doch denselben Fall, oder?«
»Habt ihr eine Genehmigung für… diese Art des Vorgehens?«, fragte ich.
»Wir haben jede Menge Genehmigungen«, presste Viteszlav kalt hervor. »Sie können sich gar nicht vorstellen, wie viele.«
Vorbei. Er hatte seine Fassung zurückgewonnen. Und wollte es jetzt auf einen Streit ankommen lassen. Kein Wunder -schließlich hätte er sich beinahe seinen Instinkten überlassen, hätte seine Selbstbeherrschung verloren - für einen Hohen Vampir ein unverzeihbarer Fehler. »Wollen Sie sich davon überzeugen, Wächter?«In Viteszlavs Stimme schwang echte, ruhige Wut mit.
Natürlich darf sich ein Inquisitor anschreien lassen. Doch auch ich konnte jetzt nicht mehr zurück!
Es war Edgar, der die Situation rettete. Er hob die Hände und deklamierte theatralisch: »Das ist alles meine Schuld! Ich hätte Herrn Gorodezki erkennen müssen! Viteszlav, das ist mein persönliches Versäumnis! Verzeihen Sie!«
Ich streckte dem Vampir als Erster die Hand hin. »Richtig, wir bearbeiten denselben Fall. Ich habe einfach nicht erwartet, Sie hier zu sehen.«
Das stimmte. Viteszlav blickte kurz zur Seite. Dann ergriff er mit einem ausgesprochen freundlichen Lächeln meine Hand. Die Hand des Vampirs war warm… Ich wusste, was das hieß.
»Der Kollege Viteszlav ist gerade erst aus dem Flugzeug gestiegen«, erklärte Edgar.
»Und hat es noch nicht geschafft, eine temporäre Registrierung vornehmen zu lassen?«, hakte ich nach.
Wie mächtig Viteszlav auch sein, welchen Posten er auch innerhalb der Inquisition bekleiden mochte, er blieb doch ein Vampir. Und musste die erniedrigende Prozedur der Registrierung über sich ergehen lassen.
Doch ich ritt nicht weiter auf der Sache herum. Im Gegenteil. »Wir können die notwendigen Formalitäten gleich hier hinter uns bringen«, schlug ich vor. »Ich habe das Recht dazu.«
»Vielen Dank«, meinte der Vampir nickend. »Aber ich schaue nachher in Ihrem Büro vorbei. Ordnung muss sein.«Der brüchige Friede war wiederhergestellt.
»Ich habe mir die Aufzeichnungen schon angesehen«, informierte ich sie. »Vor drei Tagen haben vier Männer und eine Frau Briefe abgeschickt. Und ein Bauarbeiter hat einen ganzen Stapel Briefe aufgegeben. Hier sind Leute aus Usbekistan beschäftigt.«
»Ein gutes Zeichen für Ihr Land«, meinte Viteszlav ausgesprochen höflich. »Wenn als Arbeitskräfte Menschen aus den Nachbarstaaten angeworben werden, deutet das auf wirtschaftlichen Aufschwung hin.«
Ich hätte ihm erklären können, was ich diesbezüglich dachte, ließ es aber bleiben. »Wollen Sie sich die Aufzeichnungen ansehen?«, fragte ich.
»Wenn es möglich ist, ja«, bekundete der Vampir sein Interesse.
Edgar stand bescheiden abseits. Ich brachte das Bild der Postfiliale auf den Bildschirm. Schaltete den»Bewegungssucher«ein, und wir schauten uns noch einmal die Liebhaber des epistolarischen Genres an.
»Den kenn ich.«Ich wies mit dem Finger auf Lass. »Ich kriege heute noch raus, was genau er abgeschickt hat. »
»Haben Sie ihn in Verdacht?«, hakte Viteszlav nach.
»Nein.«Ich schüttelte den Kopf.
Der Vampir ließ die Aufzeichnung noch einmal durchlaufen. Diesmal wurde der arme eingefrorene Security-Mensch ebenfalls vor den Computer gesetzt. »Wer ist das?«, fragte Viteszlav.
»Ein Mieter«, antwortete der Mann, der teilnahmslos auf den Bildschirm sah. »Erster Block, fünfzehnter Stock…«
Er hatte ein gutes Gedächtnis. Kannte die Namen aller Verdächtigen, nur bei dem Arbeiter mit dem Stapel Briefen musste er passen. Außer Lass, dem Mieter aus dem fünfzehnten Stock und der Alten aus dem zehnten hatten noch zwei Manager Briefe aus dem Assol abgeschickt.
»Wir nehmen uns die Männer vor«, entschied Viteszlav. »Fürs Erste. Überprüfen Sie die Alte, Gorodezki. In Ordnung?«
Ich zuckte die Achseln. Zusammenarbeit war ja schön und gut, aber herumkommandieren würde ich mich nicht lassen. Schon gar nicht von einem Dunklen. Einem Vampir.
»Für Sie ist das einfacher«, erklärte Viteszlav. »Ich… ich habe Probleme, mich mit alten Menschen zu unterhalten.«
Das Geständnis war offen und überraschend. Ich murmelte etwas, bestand aber nicht auf weiteren Erklärungen.
»Ich spüre bei ihnen das, was mir fehlt«, fuhr der Vampir trotzdem fort. »Die Sterblichkeit. »
»Sind Sie neidisch?«, platzte es aus mir heraus.
»Mir graut vor ihnen.«Viteszlav beugte sich zu dem Security-Mann hinunter. »Wir gehen jetzt«, informierte er ihn. »Du wirst noch fünf Minuten schlafen und süße Träume haben. Wenn du aufwachst, hast du unseren Besuch vergessen. Du wirst dich nur an Anton erinnern… den du in dein Herz schließen wirst. Wann immer Anton etwas von dir will, wirst du ihm behilflich sein. »