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»Das geht doch…«, protestierte ich schwach.

»Wir arbeiten am selben Fall«, erinnerte mich der Vampir. »Ich weiß, wie schwer es ist, verdeckt zu arbeiten. Leben Sie wohl.«

Im nächsten Augenblick war er verschwunden. Edgar lächelte schuldbewusst. Und ging zur Tür hinaus.

Ohne darauf zu warten, dass der Security-Mann aufwachte, verließ auch ich sein Büro.

Vier

Das Schicksal, das nach Überzeugung unserer Magier nicht existierte, war mir wohlgesonnen.

Im Foyer des Assol (dieser Raum sollte nicht Treppenhaus genannt werden!) erblickte ich die Alte, mit der ein Gespräch anzufangen der Vampir sich fürchtete. Sie stand am Fahrstuhl und schaute nachdenklich auf die Knöpfe.

Ich betrachtete sie durchs Zwielicht - und konnte mich davon überzeugen, dass die Alte total verzweifelt war. Fast schon panisch. Die professionellen Security-Leute würden ihr nicht zu Hilfe eilen, denn äußerlich wirkte die Alte absolut gelassen.

Entschlossen trat ich an die ältere Dame heran. In der Tat: eine»ältere Dame«. Das bescheidene, gute russische Wort»Alte«traf es überhaupt nicht.

»Entschuldigen Sie, aber kann ich Ihnen vielleicht behilflich sein?«, fragte ich.

Die ältere Dame schielte zu mir hinüber. Ohne den üblichen Argwohn alter Menschen, eher beschämt.

»Ich habe vergessen, wo ich wohne«, gestand sie. »Wissen Sie es zufällig?«

»Im zehnten Stock«, antwortete ich. »Darf ich Sie vielleicht hinbringen?«Die silbergrauen Locken, zwischen denen zarte rosafarbene

Haut hindurchschimmerte, gerieten kaum merklich in Bewegung.

»Achtzig Jahre«, erklärte die Alte. »Das weiß ich noch… Wenn es mir auch schwer fällt. Aber das habe ich nicht vergessen.«

Ich hakte mich bei der Dame ein und führte sie zum Aufzug. Einer der Security-Männer kam auf uns zu, doch meine Begleiterin älteren Semesters schüttelte den Kopf. »Der Herr bringt mich…«

Der Herr brachte sie. Ihre Tür erkannte die alte Dame wieder, sie beschleunigte sogar fröhlich den Schritt. Die Wohnung war nicht abgeschlossen und aufs Prachtvollste modernisiert und eingerichtet. Durch die Diele tigerte eine energische junge Frau um die zwanzig. »Und unten habe ich auch schon alles abgesucht!«, jammerte sie ins Handy. »Sie ist schon wieder entwischt…«

Unser Erscheinen begeisterte die Frau. Nur fürchtete ich, dass sowohl das freundliche Lächeln wie auch die rührende Sorge in erster Linie für mich bestimmt waren.

Sieh her, junge sympathische Frauen wie wir arbeiten in solchen Häusern nicht um des Geldes willen als Angestellte.

»Maschenka, bring uns einen Tee«, unterbrach die Alte ihr Gegacker. Vermutlich hegte auch sie keine Illusionen. »Ins große Zimmer.«

Die junge Frau stürmte beflissen in die Küche, nicht ohne mir vorher noch einmal zuzulächeln. »Es wird immer schlimmer mit ihr…«, flüsterte sie mir ins Ohr, wobei sie voller Bedacht ihren drallen Busen gegen mich presste. »Ich bin Tamara.«

Ich selbst wollte mich nicht vorstellen, warum auch immer. Stattdessen folgte ich der Alten einfach ins»große Zimmer«. In ein sehr großes Zimmer. Mit alten Möbeln aus der Stalinzeit und unübersehbar das Werk eines teuren Innenarchitekten. An den Wänden hingen Schwarzweißfotografien, die ich auf den ersten Blick ebenfalls für Details der Einrichtung hielt. Dann begriff ich jedoch, dass es sich bei der jungen, betörenden Schönheit mit den weißen Zähnen und der Pilotenmütze um keine Geringere als meine Dame handelte.

»Ich habe Bomben auf die Fritzen geworfen«, erklärte die Dame bescheiden, während sie an dem runden Tisch Platz nahm, auf dem eine bordeauxfarbene Samtdecke mit Fransen lag. »Kalinin selbst hat mir einen Orden überreicht…«

Völlig perplex setzte ich mich der einstigen Fliegerin gegenüber.

Frauen wie sie beschließen ihr Leben im besten Fall auf einer Staatsdatscha oder in einem dieser riesigen baufälligen Stalinbauten. Aber auf gar keinen Fall in einem elitären Wohnkomplex! Sie hat Bomben auf die Faschisten abgeworfen, nicht die Goldvorräte aus dem Reichstag geklaut!

»Mein Enkel hat mir die Wohnung gekauft«, erklärte die Alte, als habe sie meine Gedanken gelesen. »Eine große Wohnung. Aber ich kann mir einfach nichts merken… Ist mir zwar alles irgendwie nicht fremd, aber ich kann mich nicht mehr daran erinnern…«

Ich nickte. Ein guter Enkel, ohne Frage. Natürlich besorgt er der ordengeschmückten Oma eine teure Wohnung - die er später erben würde. Ein vernünftiger Zug. Und auf alle Fälle eine sehr gutmütige Geste. Nur das Hausmädchen hätte er sorgfältiger aussuchen sollen. Keine zwanzigjährige Frau, die sich um den Kapitalwert ihres jungen Gesichtchens und ihre gute Figur sorgte, sondern eine ältere, gestandene Krankenschwester…

Die Alte blickte nachdenklich zum Fenster hinaus. »Besser hätte ich es in diesen andern Häusern, diesen kleinen…«, meinte sie. »Das würde besser zu mir passen…«

Ich hörte jedoch nicht zu. Sondern blickte auf den Tisch, der mit zerknitterten Briefen mit dem Stempel»Unbekannt verzogen«übersät war. Kein Wunder: Bei den Adressaten handelte es sich sowohl um den Allunionsvorsteher Kalinin wie auch um den Generalissimus Jossif Stalin, den Genossen Chruschtschow und sogar den»lieben Leonid Iljitsch Breschnew«.

Die letzten Staatsoberhäupter hatte das Gedächtnis der Alten offenbar nicht mehr behalten können.

Man brauchte nicht die Fähigkeiten eines Anderen, um zu schlussfolgern, was für einen Brief die Alte vor drei Tagen abgeschickt hatte.

»Ich kann die Hände nicht in den Schoß legen«, jammerte die Alte, als sie meinen Blick auffing. »Ich bitte alle, mich in eine Schule zu schicken, eine Fliegerschule… Um der Jugend zu erzählen, wie wir damals gelebt haben…«

Trotzdem sah ich sie mir noch einmal durchs Zwielicht an. Und hätte beinah aufgeschrien.

Die alte Pilotin war eine potenzielle Andere. Freilich, ihre Kraft war nicht besonders groß, aber nicht zu übersehen!

Nur, sie in diesem Alter zu initiieren, das konnte ich mir nicht vorstellen. Mit sechzig Jahren, mit siebzig - aber mit achtzig?

Die Belastung würde sie umbringen. Sie würde als körperloser, wahnsinniger Schatten ins Zwielicht eingehen…

Alle kannst du nicht aufspüren. Selbst in Moskau nicht, wo es so viele Wächter gibt. Mitunter erkennen wir unsere Brüder und Schwestern zu spät!

Tamara trat ein, mit einem Tablett, auf dem Schälchen mit Gebäck und Pralinen, eine Teekanne und wunderschöne alte Tassen standen. Lautlos stellte sie die Schalen auf den Tisch.

Die Alte döste bereits, obwohl sie nach wie vor gerade und sicher auf dem Stuhl saß.

Leise stand ich auf. »Ich gehe dann«, meinte ich mit einem Nicken zu Tamara. »Passen Sie ein bisschen besser auf sie auf, sie vergisst schon mal, wo sie wohnt.«

»Ich lasse sie nicht aus den Augen!«, entgegnete Tamara, wobei sie mit den Wimpern klimperte. »Wie können Sie so was nur denken…«

Ich überprüfte auch sie. Keine Anlagen zur Anderen. Eine normale junge Frau. Auf ihre Art sogar gut.

»Schreibt sie viele Briefe?«, fragte ich sie und deutete ein Lächeln an.

Mein Lächeln fasste Tamara als Einladung auf, ebenfalls zu lächeln. »Die ganze Zeit! An Stalin, Breschnew… Komischer Humor, nicht wahr?«Kein Widerspruch meinerseits.

Von allen Cafes und Restaurants, mit denen das Assol gespickt war, hatte nur das Cafe im Supermarkt auf. Eine sehr sympathische Lokalität, die eine Ebene über den Kassen lag. Mit einem einzigartigen Blick auf den gesamten Supermarkt. Vermutlich machte es Spaß, dort einen Kaffee zu trinken, bevor man durch die Warenregale schlenderte, und sich die Route fürs Shopping zurechtlegte. Was für ein grauenvolles Wort, ein schrecklicher Anglizismus, der über das Russische hergefallen ist wie eine Zecke über wehrlose Beute!