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Dort aß ich zu Mittag und gab mir alle Mühe, mich von den Preisen nicht einschüchtern zu lassen. Danach bestellte ich mir einen doppelten Espresso, kaufte mir ein Päckchen Zigaretten - ich rauche nicht oft - und versuchte, wie ein Detektiv zu denken. Wer hatte den Brief abgeschickt?

Ein abtrünniger Anderer oder ein Mensch, der Auftraggeber des Anderen?

Irgendwie schien das beiden nicht sonderlich viel zu bringen. Es war sogar völlig blödsinnig! Und die Version mit einem weiteren Menschen, der versuchte, eine Initiierung zu verhindern, schien mir reichlich melodramatisch.

Denke, Kopf, denke! Du hast es schon mit vertrackteren Problemen zu tun gehabt. Es gibt einen Anderen, der zum Verräter geworden ist. Er hat einen Auftraggeber. Jeweils ein Brief ist an die Wachen und die Inquisition geschickt worden. Also stammen diese Briefe vermutlich von einem Anderen. Einem starken, klugen Anderen, der viel weiß. Bleibt die Frage, wozu.

Vermutlich gab es darauf eine Antwort. Nämlich um diese Initiierung zu verhindern. Um uns den Auftraggeber auszuliefern und von der Pflicht entbunden zu sein, das gegebene Versprechen einzuhalten.

Folglich ging es nicht um Geld. Der Auftraggeber musste - wie auch immer! - Macht über den Anderen bekommen haben. Eine schreckliche, absolute Macht, die es ihm erlaubte, jede denkbare Forderung zu stellen. Zugeben, dass ein Mensch solche Gewalt über ihn erlangt hatte, konnte der Andere nicht. Weshalb er einen Rösselsprung wagte… Ha!

Ich zündete mir eine Zigarette an, nippte an meinem Kaffee. Wie ein Dandy lümmelte ich mich in dem weichen Sessel.

Allmählich kristallisierte sich ein Bild heraus. Wie kann ein Anderer zum Sklaven eines Menschen werden? Eines gewöhnlichen Menschen, mochte er noch so wohlhabend, einflussreich und klug sein…

Es gab nur eine Möglichkeit, und die gefiel mir überhaupt nicht. Unser geheimnisvoller Verräter musste sich in die gleiche Lage gebracht haben wie der goldene Fisch im Märchen. Er hatte dem Menschen sein Ehrenwort gegeben, ihm jeden Wunsch zu erfüllen. Auch der Fisch hatte nicht damit gerechnet, dass die meschuggene Alte - apropos Alte: Ich musste Geser mitteilen, das ich eine potenzielle Andere entdeckt hatte -, dass die meschuggene Alte Herrscherin über das Meer werden wollte. Und genau hier lag der Hund begraben.

Sowohl ein Vampir wie auch ein Tiermensch oder ein Dunkler Magier hätten auf das Versprechen gepfiffen.

Sie geben ihr Wort - und nehmen es wieder zurück. Fängt ein Mensch dann noch an, auf seinem Recht zu bestehen, gibt's einen Biss in den Hals.

Also musste ein Lichter Magier das unbedachte Versprechen gegeben haben! Konnte das sein? Ja.

Ohne weiteres. Wir alle sind leicht naiv, da hatte Kostja Recht. Man kriegt uns bei unseren menschlichen Schwächen, bei un-serm Schuldgefühl, bei allerlei romantischem Kram…

Also mussten wir den Verräter in unsern Reihen suchen. Er hat sein Wort gegeben, wir wissen bloß noch nicht, warum. Er sitzt in der Falle. Wenn ein Lichter Magier sein Versprechen nicht hält, muss er sich dematerialisieren…

Stopp! Auch das war nicht uninteressant. Ich kann einem Menschen versprechen, »alles Mögliche«für ihn zu tun. Doch wenn er mich um etwas Unmögliches bittet - keine Ahnung, worum genau, nichts, was schwierig, eklig oder verboten ist, sondern in der Tat um etwas, das sich nicht erfüllen lässt, zum Beispiel die Sonne auszulöschen oder einen Menschen in einen Anderen zu verwandeln -, was würde ich dann antworten? Dass das nicht geht. Unter gar keinen Umständen. Und es stimmt ja, weshalb ich mich auch nicht zu dematerialisieren bräuchte. Mein Herr, mein Mensch müsste sich damit abfinden. Müsste etwas Neues verlangen: Geld, Gesundheit, eine umwerfende sexuelle Anziehungskraft, Erfolg bei Börsenspekulationen und ein Gespür für Gefahr - kurzum, die üblichen menschlichen Freuden, die ein starker Anderer ihm problemlos garantieren kann.

Aber der Verräter gerät in Panik! Und zwar so heftig, dass er seinen»Herrn«gleich beiden Wachen und der Inquisition ausliefert. Er steht mit dem Rücken zur Wand, fürchtet, für immer ins Zwielicht einzugehen.

Das heißt, es musste tatsächlich eine Möglichkeit geben, einen Menschen in einen Anderen zu verwandeln!

Das heißt, das Unmögliche war möglich. Es gab einen Weg. Der nur wenigen offen stand, aber es gab ihn. Mir wurde unheimlich zumute.

Der Verräter musste einer von unsern ältesten und kundigsten Magiern sein. Nicht unbedingt ein Magier außerhalb jeder Kategorie, nicht unbedingt einer, der einen wichtigen Posten bekleidete. Aber einer, den das Leben Manches gelehrt hatte, einer, der die großen Geheimnisse kannte… Aus irgendeinem Grund fiel mir sofort Semjon ein.

Semjon, der mitunter Dinge weiß, deretwegen ihm, dem Lichten Magier, das Zeichen des Straffeuers an den Körper geheftet wird.

»Ich bin schon mehr als ein Jahrhundert alt…«Kann sein. Er weiß sehr viel. Wer noch?

Es gibt eine ganze Reihe alter, erfahrener Magier, die nicht in der Wache arbeiten. Sie leben in Moskau, sehen fern, trinken Bier, gehen zum Fußball…

Ich kannte sie nicht, das ist mein Problem. Diese weisen Magier, die sich aus unsern Angelegenheiten heraushalten, wollen nicht in den endlosen Krieg der Wachen verwickelt werden.

Wen sollte ich jetzt um Rat fragen? Wem konnte ich meine fürchterlichen Ahnungen darlegen? Geser? Olga? Letzten Endes zählten auch sie zum Kreis der potenziell Verdächtigen.

Selbst wenn ich nicht an ihre Leichtfertigkeit glauben konnte. Nach allem, was Olga durchgemacht hatte - über den durchtriebenen Geser brauchte man in diesem Zusammenhang kein Wort zu verlieren -, würde ihr ein solcher Lapsus nicht unterlaufen. Beide würden einem Menschen keine unerfüllbaren Versprechungen machen. Was auch für Semjon zutraf! Ich konnte nicht glauben, dass der weise, im ursprünglichen, allgemein gebräuchlichen Sinne weise Semjon in eine solche Falle laufen würde…

Also musste ein andrer unserer Meister den Fehler begangen haben.

Wie stünde ich da, wenn ich eine solche Beschuldigung vorbrächte? »Also, meines Erachtens ist einer von uns der Schuldige. Ein Lichter. Vermutlich Semjon. Oder Olga. Oder Sie selbst, Geser…«

Wie sollte ich danach noch zur Arbeit gehen? Wie meinen Kollegen ins Gesicht schauen?

Nein, einen solchen Verdacht konnte ich nicht aussprechen. Ich brauchte Gewissheit.

Irgendwie schien es nicht angemessen, die Kellnerin zu rufen. Daher ging ich zum Tresen und bat, mir noch einen Kaffee zu machen. Auf das Geländer gestützt, starrte ich nach unten.

Und entdeckte dort meinen nächtlichen Bekannten. Der Gitarrist und Sammler von albernen T-Shirts, der glückliche Besitzer eines großen englischen Klosetts, stand neben einem offenen Becken, in dem lebende Hummer krabbelten. Auf dem Gesicht von Lass spiegelte sich angestrengte Denkarbeit wider. Dann grinste er und schob seinen Wagen zur Kasse. Ich merkte auf.

Lass legte gemächlich seine bescheidenen Einkäufe aufs Fließband, unter denen eine Flasche tschechischer Absinth herausragte. »Wissen Sie«, meinte er beim Bezahlen, »da bei Ihrem Hummerbecken…«

Die Kassiererin lächelte und brachte mit ihrer ganzen Miene zum Ausdruck, dass es in der Tat ein solches Becken gebe, dass in ihm Hummer schwämmen und ein Paar dieser Gliederfüßer ganz ausgezeichnet zu Absinth, Kefir und Tiefkühlpelmenis passe.

»Also da«, fuhr Lass ungerührt fort, »habe ich gerade gesehen, wie ein Hummer auf den Rücken eines andern geklettert ist, dann den Beckenrand erklommen hat und unter den Tiefkühltruhen verschwunden ist…«

Die Frau blinzelte ein paar Mal. Kurz darauf erschienen zwei Security-Leute und eine kräftige Putzfrau an der Kasse. Sobald sie die schreckliche Nachricht von der Flucht hörten, stürzten sie auf die Tiefkühltruhen zu. Lass sah sich noch einmal im Supermarkt um und bezahlte.

Die Jagd nach dem nicht existierenden Hummer erreichte ihren Höhepunkt. Die Putzfrau fuchtelte mit ihrem Schrubber unter den Truhen herum, die Security-Männer wuselten um sie herum. »Zu mir«, schnappte ich auf, »treib ihn zu mir! Gleich hab ich ihn.«