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Fünf

Den halben Tag verbrachte ich mit absolut nebensächlichen Dingen, die niemandem etwas nutzten. Vermutlich hätte der Vampir Kostja seinen weißlippigen Mund verzogen und mir einen Vortrag darüber gehalten, was er von meiner Naivität hielt…

Als Erstes fuhr ich ins Assol, zog mir Jeans und ein einfaches Hemd an, danach ging ich in den nächsten normalen Hof, der zu einem tristen achtstöckigen Plattenbau gehörte. Zu meiner uneingeschränkten Genugtuung entdeckte ich dort einen Fußballplatz, auf dem die Schule schwänzende ältere Jungen einem abgewetzten Ball hinterherjagten. Auch ein paar jüngere Männer waren dabei. Trotz allem machte sich die gerade zu Ende gegangene Fußballweltmeisterschaft, bei der sich unsre Mannschaft nicht gerade mit Ruhm bekleckert hatte, positiv bemerkbar. In einige der noch erhaltenen Höfen kehrte der Hofgeist zurück, der völlig verloren gegangen schien.

Man nahm mich in eine Mannschaft auf. In die, in der nur ein erwachsener Mann spielte - der eine beeindruckende Wampe vor sich hertrug, aber dennoch ausgesprochen agil und draufgängerisch war. Ich selbst spiele nicht gut, aber hier hatten sich auch nicht gerade Weltmeister versammelt.

Etwa eine Stunde rannte ich über die staubige, fest gestampfte Erde, schrie, schoss auf das Tor aus durchlöchertem Maschendraht und traf sogar ein paar Mal. Einmal schaffte es ein baumlanger kräftiger Zehntklässler, mich geschickt auszutrippeln. Er lächelte mich großmütig an. Ich nahm's nicht krumm, ärgerte mich nicht.

Als das Spiel dem Ende zuging - irgendwie ganz von selbst -, steuerte ich das nächste Geschäft an, kaufte Mineralwasser und Bier sowie für die jüngsten Fußballer Limo der Marke Baikal. Natürlich hätten sie Coca-Cola bevorzugt, doch allmählich sollte man anfangen, ihnen das transatlantische Gift wieder…

Was mich enttäuschte: Mein großzügiges Verhalten - das entging mir nicht - beschwor die unterschiedlichsten Mutmaßungen herauf. Gute Taten muss man also in Maßen vollbringen.

Nachdem ich mich von den»eigenen«und den»gegnerischen«Spielern verabschiedet hatte, ging ich zum Ufer hinunter, wo ich begeistert ins dreckige, aber erfrischende Wasser stieg. Ganz in der Nähe erhob sich das Assol mit seinem pompösen Hof. Soll es doch…

Irgendwann ging mir etwas auf, das urkomisch war: Ein Dunkler Magier an meiner Stelle könnte genauso handeln. Nicht einer der ganz jungen, der sich noch auf alle zuvor unerreichbaren Vergnügen wie frische Austern und teure Prostituierte stürzt, sondern ein älterer Dunkler, der bereits hinter das Prinzip dieser Welt gekommen war: Vanitas vanitatum (et omnia vanitas) - alles ist nichtig.

Auch er wäre über den kleinen Bolzplatz gejagt, hätte geschrien, den Ball getreten und die ungeschickt fluchenden Jugendlichen angeschnauzt: »Halt deine Zunge im Zaum, du Knallkopf!«Dann wäre er an den Strand gegangen, hätte im trüben Wasser geplanscht, im Gras gelegen, in den Himmel geschaut…

Wo verläuft sie, die Grenze? Gut, bei den niederen Dunklen ist alles klar. Sie sind die Untoten. Sie müssen töten, um existieren zu können. Hier hilft auch kein sprachlicher Eiertanz. Sie sind das Böse.

Aber wo verläuft die eigentliche Grenze?

Und warum verschwindet sie mitunter? In Momenten, wenn es darum geht, dass ein einzelner Mensch ein Anderer werden will? Ein einziger! Wen setzt man da gleich an, um ihn zu suchen! Dunkle, Lichte, die Inquisition… Denn nicht nur ich befasse mich mit diesem Fall, ich bin schließlich nur ein vorgeschobener Bauer, der für Ordnung vor Ort sorgt. Nein, Geser runzelt die Stirn, Sebulon blickt finster drein, Viteszlav bleckt die Zähne. Ein Mensch möchte ein Anderer werden! Packt ihn, fasst ihn! Doch wer würde das schließlich nicht wollen?

Nicht den ewigen Hunger der Vampire, nicht die Anfälle von Wahnsinn der Tiermenschen, sondern ein befriedigendes Leben als Magier. Wo alles wie bei einem Menschen ist. Nur besser.

Du brauchst keine Angst mehr zu haben, dass aus deinem Auto die teure Musikanlage gestohlen wird, wenn du es auf einem unbewachten Parkplatz abgestellt hast.

Du kriegst nie wieder Grippe, und wenn du an einer unheilbaren Schweinerei erkrankst, stehen Dunkle Hexenmeister oder Lichte Heiler zu deinen Diensten.

Du brauchst dir nicht länger den Kopf darüber zu zerbrechen, wie du bis Ultimo überleben sollst.

Du hast nachts unterwegs keine Angst mehr und fürchtest dich nicht vor besoffenen Halbstarken. Selbst die Miliz lässt dich kalt.

Du brauchst dir keine Gedanken darüber zu machen, ob dein Kind sicher von der Schule nach Hause kommt und nicht im Hauseingang einem wahnsinnigen Psycho in die Arme läuft…

Andererseits liegt gerade hier der Hund begraben. Deine Familie ist in Sicherheit, sie werden sogar aus der Vampirlotterie herausgenommen. Dennoch rettest du sie nicht vor Alter und Tod.

Sicher, noch ist das alles weit weg. Ganz weit weg.

Und insgesamt ist es schon weitaus angenehmer, ein Anderer zu sein.

Außerdem würdest du nichts gewinnen, wenn du dich nicht initiieren lässt. Im Gegenteil, selbst Verwandte dürften dich dann als Idioten beschimpfen. Denn als Anderer könntest du dich für sie einsetzen. So wie Semjon es erzählt hat… Jemand vergiftet einem Bauern das Vieh, und der Sohn, ein Anderer, sorgt dafür, dass ein Anderer die Sache untersucht. Die Blutsbande machen sich eben doch bemerkbar. Sie sind dicker als Wasser…

Ich erschauerte, als hätte ich einen Stromschlag bekommen. Sprang auf und starrte zum Assol hinüber.

Aus welchem Grund gab ein Lichter einem Menschen das leichtsinnige Verspechen, für ihn alles nur denkbar Mögliche zu tun?

Aus einem einzigen! Das war sie, die Spur!

»Ist dir eine Idee gekommen, Anton?«, erklang in meinem Rücken eine Stimme.

Ich drehte mich und erblickte Kostja. Er hatte, wie am Strand nicht anders zu erwarten, lediglich eine Badehose an, trug allerdings noch eine Sonnenbrille sowie einen weißen Kinderhut, der ihm wie ein orientalisches Käppchen auf dem Kopf thronte (bestimmt hatte er ihn ohne Gewissensbisse einem Kind weggenommen). »Brennt die Sonne?«, fragte ich höhnisch.

Kostja verzog das Gesicht. »Total. Hängt da im Himmel wie ein Bügeleisen… Ist dir etwa nicht heiß? »

»Doch«, gab ich zu. »Aber das ist eine andre Hitze.«

»Wollen wir die Sticheleien nicht lassen?«, fragte Kostja. Er setzte sich in den Sand und warf angeekelt eine Kippe beiseite.

»Ich bade jetzt nur nachts. Aber ich bin gekommen… um mit dir zu reden.«

Ich fühlte mich nicht wohl in meiner Haut. Vor mir saß ein missmutiger junger Mann, der obendrein ein Untoter war. Aber ich erinnerte mich noch an den verschlossenen Jugendlichen, der verlegen vor meiner Tür stand. »Sie dürfen mich nicht einladen. Ich bin doch ein Vampir, ich könnte sonst eines Nachts wiederkommen und Sie beißen…«

Relativ lange hatte dieser Junge sich beherrschen können. Hatte nur Schweine- und Spenderblut getrunken. Davon geträumt, ein Lebender zu werden. »Wie Pinocchio«, brachte er irgendwann als Vergleich an, nachdem er Collodi gelesen oder den Film A. I. - Künstliche Intelligenz gesehen hatte.

Wenn Geser mich nicht losgeschickt hätte, um Vampire zu jagen…

Nein, Quatsch. Die Natur hätte so oder so das Ihre verlangt. Und Kostja seine Lizenz bekommen.

Trotzdem durfte ich mich nicht über ihn lustig machen. Ich hatte einen ungeheuren Vorteil - ich war ein Lebender.

Ich konnte mich mit alten Menschen unterhalten, ohne mich zu schämen. Denn darum ging es: um Scham. Viteszlav hatte sich um die Wahrheit herumgedrückt. Weder Angst noch Ekel hielten ihn von den Alten fern. Sondern Scham.

»Tut mir leid, Kostja«, sagte ich und legte mich neben ihn in den Sand. »Lass uns reden.«

»Ich glaube, die ständigen Bewohner des Assol haben mit dem Fall nichts zu tun«, begann Kostja finster. »Der Auftraggeber ist unter denjenigen zu suchen, die sich nur ab und an dort aufhalten. »

»Wir müssen alle überprüfen…«, seufzte ich theatralisch.

»Und dann haben wir noch eine kleine Aufgabe. Wir müssen den Verräter finden.«

»Dann müssen wir ihn suchen.«