Geser würde bestraft werden, aber nicht sehr streng. Im Höchstfall eine Rüge vom Europabüro der Nachtwache. Und irgendwas Aufsehenerregendes, aber wenig Sinnvolles von der Inquisition. Selbst seinen Posten könnte Geser behalten. Nur…
Ich stellte mir vor, was daraufhin in der Tagwache losbrechen würde. Wie Sebulon feixen würde. Mit welch unverhohlener Neugier die Dunklen über Gesers Familienangelegenheiten herfallen und seinem menschlichen Sohn einen Gruß zukommen lassen würden.
Sicher, in den Jahren, die Geser schon hinter sich hatte, hätte sich jeder ein dickes Fell zugelegt. Gelernt, Spott zu ertragen. Trotzdem würde ich jetzt nicht mit ihm tauschen wollen!
Und auch unsere Leute neigten zur Ironie. Nein, niemand würde Geser einen Vorwurf machen. Oder hinter seinem Rücken über ihn tuscheln.
Ein Grinsen hier und da, das ja. Ein verständnisloses Kopfschütteln. Und Geflüster: »Er wird doch alt, der Große, ja, er wird alt…«
Heute kannte ich Geser gegenüber keine hündische Unterwürfigkeit und keine Begeisterung mehr. Zu oft beurteilten wir die Dinge völlig unterschiedlich. Manches konnte ich ihm bis heute nicht verzeihen… Aber so in der Tinte zu sitzen!
»Was hast du da bloß gemacht, Großer?«, sagte ich. Dann legte ich die Mappen in den offenen Tresor zurück und goss mir ein weiteres Glas Kognak ein. Konnte ich Geser helfen? Wie? Indem ich mich als Erster an Timur Borissowitsch wandte?
Wie dann weiter? Sollte ich ihn mit einem Schweigezauber belegen? Den nur wahre Meister aufheben könnten?
Und wenn der Geschäftsmann Russland verlassen musste? Fliehen musste, als seien sämtliche Gangsterbanden der Stadt und auch alle Justizorgane hinter ihm?
Vielleicht würde er das sogar tun. Sich irgendwo in der Tundra oder in Polynesien verstecken.
Geschah ihm ganz recht. Sollte er doch für den Rest seines Lebens Robben jagen oder Kokosnüsse von den Palmen schlagen! Schließlich hatte er zur»Herrscherin über das Meer«werden wollen…
Ich nahm den Telefonhörer, wählte die Nummer der Zentrale unseres Büros. Dann noch die Durchwahl für das Rechenzentrum. »Ja?«, erklang im Hörer Toliks Stimme.
»Tolik, du musst einen Menschen für mich durchleuchten. Sofort.«
»Gib mir den Namen, dann durchleuchte ich ihn«, erwiderte Tolik unerschütterlich.
Ich gab ihm alles durch, was ich von Timur Borissowitsch hatte in Erfahrung bringen können. »He, was brauchst du denn sonst noch?«, wunderte sich Tolik.
»Auf welcher Seite er schläft oder wann er das letzte Mal beim
Zahnarzt gewesen war?«
»Wo er jetzt ist«, meinte ich finster.
Tolik schnaubte, aber ich hörte, wie er am andern Ende der Leitung munter auf die Tastatur einschlug. »Er hat ein Handy«, sagte ich für alle Fälle.
»Versuch nicht, einen Weisen zu belehren. Er hat sogar zwei Handys… beide befinden sich… sind… Gut, ich lade jetzt die Karte…«Ich wartete.
»Wohnanlage Assol. Genauer kann es dir der CIA auch nicht sagen. Präzisere Angaben sind nicht möglich.«
»Ich schulde dir ein Fläschchen«, meinte ich und legte auf. Sprang hoch. Doch wozu die Eile? Schließlich saß ich vorm Bildschirm der Überwachungskameras. Ich musste nicht lange suchen.
Timur Borissowitsch betrat gerade den Fahrstuhl. Ihm folgte ein Pärchen mit steinernen Mienen. Zwei Bodyguards. Oder ein Bodyguard und der Chauffeur, der obendrein den zweiten Leibwächter abgab.
Ich stellte den Bildschirm ab und stürmte los. Rannte in den Flur - gerade rechtzeitig, um den Chef der Security-Firma zu treffen.
»Hatten Sie Erfolg?«, fragte er freudestrahlend. »Hm«, nickte ich ihm im Lauf zu.
»Brauchen Sie noch weitere Hilfe?«, rief mir der Mann fürsorglich hinterher. Ich schüttelte nur den Kopf.
Sechs
Der Fahrstuhl kroch - so kam es mir vor - unerträglich langsam in den neunzehnten Stock hinauf. Inzwischen konnte ich verschiedene Pläne entwickeln und wieder verwerfen. Bodyguards - das machte die Sache erheblich schwieriger.
Ich würde improvisieren müssen. Und im Notfall ein wenig von meiner Tarnung aufgeben.
Ich klingelte lange an der Tür und blickte in die elektronische Pupille der Kamera. Schließlich rührte sich etwas, und aus der in die Wand eingebauten Sprechanlage fragte jemand: »Ja?«
»Sie setzen mich unter Wasser!«, echauffierte ich mich und versuchte, so aufgelöst wie möglich zu klingen. »Die Fresken an der Decke sind schon nass! Im Flügel stehen bereits zwei Eimer Wasser!«
Woher nahm ich bloß diese Fresken und den Konzertflügel? »In was für einem Flügel?«, fragte eine misstrauische Stimme.
Woher sollte ich denn wissen, was die hier für Flügel haben? Schwarze und teure. Oder weiße und noch teurere…
»In meinem Wiener Flügel! Mit geschwungenen Beinen!«, phantasierte ich weiter.
»Und wir dachten schon in dem Klavier, das da steht vor der Tür«, erwiderte jemand mit unverhohlener Ironie.
Ich sah zu Boden. Diese verfluchte allseitige Beleuchtung… Nicht einmal einen ordentlichen Schatten gab es hier!
Als ich die Hand in Richtung Tür ausstreckte, schaffte ich es immerhin, einen schwachen Schatten auf dem rosafarbenen Holz, mit dem der Panzerstahl verkleidet war, zu erkennen. Sofort zog ich ihn zu mir.
Meine Hand tauchte ins Zwielicht ein, der Hand hinterher ich selbst.
Die Welt gestaltete sich neu. Verlor ihre Farben, ergraute. Tiefe Stille senkte sich herab, nur das elektrische Innenleben der Kamera und der Sprechanlage surrten noch.
Ich stand im Zwielicht, in jener seltsamen Welt, wohin nur die Anderen einen Weg kennen. In jener Welt, aus der unsere Kraft stammt.
Die fahlen Schatten der aufgeschreckten Bodyguards. Über ihren Köpfen glomm eine alarmierte purpurrote Aura, die ich sogar durch die Tür hindurch sehen konnte. Ich könnte sie mit einem Gedanken berühren, ihnen einen Befehl geben - und sofort würden sie mir öffnen. Doch ich zog es vor, durch die Tür hindurchzugehen.
Die Bodyguards waren wirklich auf der Hut. Einer hielt eine Pistole in der Hand, einer tastete sehr langsam nach seinem Halfter.
Ich berührte die Bodyguards, fuhr ihnen mit dem Daumen über die kräftige Stirn. Schlaft, schlaft, schlaft… Ihr seid sehr müde. Ihr müsst euch hinlegen und sofort einschlafen. Mindestens eine Stunde lang. Tief und fest. Mit süßen Träumen.
Der eine Bodyguard fiel sofort in Ohnmacht, der zweite leistete den Bruchteil einer Sekunde Widerstand. Später würde ich prüfen müssen, ob er zu uns Anderen gehörte. Wer weiß…
Dann trat ich aus dem Zwielicht heraus. Die Welt gewann ihre Farben und ihr Tempo zurück. Von irgendwoher erklang Musik.
Wie Säcke sanken die Bodyguards auf den teuren Perser, der unmittelbar hinter der Tür lag.
Es gelang mir, mit einem Griff gleich beide abzufangen und sie relativ sanft zu betten. Dann folgte ich der Musik, dem friedlichen Geigenspiel.
Diese Wohnung war in der Tat gründlich renoviert worden! Alles glänzte, war durchdacht und harmonisch, offenkundig die Arbeit eines der besten Innenarchitekten. Hier schlug der Hausherr nicht einen Nagel selbst in die Wand. Vermutlich hegte er aber auch gar nicht den Wunsch. »Das«, brummte er billigend oder unzufrieden, während er die kolorierten Zeichnungen betrachtete, dann mit dem Finger auf einige Gemälde zeigte - und die Wohnung fürs nächste halbe Jahr vergaß.
Timur Borissowitsch war anscheinend ins Assol gekommen, um die Jacuzzi zu genießen. Und zwar eine echte Jacuzzi, keinen Whirlpool einer weniger renommierten Firma. Aus dem schaumbekrönten Wasser ragte nur das Gesicht heraus, das mich so schmerzhaft an Geser erinnerte. Der teure Anzug war achtlos über eine Sessellehne geworfen - in diesem Bad reichte der Platz für Sessel, einen Zeitungstisch, eine geräumige Sauna und eben die Jacuzzi, die an ein kleines Schwimmbecken erinnerte.
Gene sind doch trotz allem eine großartige Sache! Gesers Sohn konnte kein Anderer werden, aber in seinem menschlichen Dasein genoss er alle denkbaren Freuden.