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Er wuchs über sich hinaus, als sei in ihm eine Feder hochgeschnellt. Mit Gesers Blick hätte man jetzt Nägel einschlagen können.

»Wollt ihr mich anklagen?«, fuhr Geser mit erhobener Stimme fort. »Du, Edgar? Oder du, Viteszlav?«

Kostja wich nicht rechtzeitig aus und bekam ebenfalls eine Portion von dem versengenden Blick ab. »Oder du, kleiner Vampir?«

Selbst ich wollte mich verstecken. Doch in den Tiefen meiner Seele musste ich lachen. Geser hatte alle reingelegt! Wie genau, wusste ich nicht - aber reingelegt hatte er sie!

»Wir würden an dergleichen nicht einmal denken, Helllichter Geser.«Viteszlav neigte als Erster den Kopf. »Edgar, Ihre Fragen waren unhöflich formuliert.«

»Ich bitte um Entschuldigung.«Edgar ließ den Kopf hängen. »Verzeihen Sie mir, Helllichter Geser. Es tut mir aufrichtig leid.«

Kostja sah sich voller Panik um. Erwartete er Sebulon? Nein, vermutlich nicht. Im Gegenteil, er wünschte, das Haupt der Dunklen möge nicht auftauchen und diesem hagelnden Spott ausgesetzt werden.

Und Sebulon würde nicht auftauchen, das hatte ich bereits begriffen. Der europäische Vampir hatte ungeachtet seiner Kraft und seiner jahrhundertealten Weisheit jede Erfahrung bezüglich fein gesponnener Intrigen eingebüßt und war in eine Falle getappt. Sebulon jedoch hatte sofort begriffen: Geser würde nie so dumm sein und sich derart ausliefern.

»Ihr seid über meinen Sohn hergefallen«, sagte Geser traurig. »Wer hat ihm diese Willenlosigkeit auferlegt? Du, Konstantin? »

»Nein!«, schrie Kostja panisch.

»Das war ich«, bekannte Viteszlav finster. »Soll ich den Zauber aufheben?«

»Aufheben?«, brüllte Geser. »Ihr habt an meinem Kleinen eine magische Intervention vorgenommen! Könnt ihr euch vorstellen, was für einen Schock das für ihn bedeutet? In seinem Alter? Und wie weiter? Was soll er jetzt werden, nach seiner Initiierung? Ein Dunkler?«

Mir traten die Augen aus den Höhlen. Kostja piepte leise etwas. Edgar klapperte mit den Zähnen.

Und vermutlich sahen wir alle gleichzeitig Timur Borissowitsch durchs Zwielicht an.

Die Aura des potenziellen Anderen ließ sich absolut deutlich erkennen.

Timur Borissowitsch brauchte seinen Hals nicht den Eckzähnen eines Vampirs oder eines Tiermenschen darzubieten. Er konnte durchaus ein ordentlicher Magier werden. Vierten oder fünften Grades. Bedauerlicherweise wohl eher ein Dunkler Magier… Aber…

»Was soll ich jetzt tun?«, fragte Geser. »Ihr habt euch auf meinen Jungen gestürzt, ihn erschreckt, ihm euren Willen aufgezwungen…«

Der angegraute»Junge«fuhr mit tauben Fingern über die Krawatte und versuchte immer noch, den Windsorknoten sorgfältiger zu binden.

»Soll er jetzt ein Dunkler werden?«, empörte sich Geser. »Ja? Das habt ihr doch wohl mit Absicht gemacht! Gesers Sohn ein Dunkler Magier!«

»Ich bin überzeugt davon, dass er in jedem Fall ein Dunkler Magier geworden wäre…«, gab Viteszlav zu bedenken. »Bei dem Leben, das er führt…«

»Du hast ihm seinen Willen genommen, ihn zum Dunkel gedrängt - und jetzt gibst du solche Erklärungen ab?«, zischte Geser in bedrohlichem Ton. »Glaubt die Inquisition, sie habe das Recht, den Großen Vertrag zu verletzen? Oder geht dieser Angriff auf deine Rechnung? Kannst du Karlsbad immer noch nicht vergessen? Wir können unser Gespräch von damals gern fortsetzen, Viteszlav. Hier ist nicht das Rote Bad, aber genug Platz für ein Duell haben wir.«

Eine Sekunde lang zögerte Viteszlav, versuchte, dem Blick Gesers standzuhalten.

Dann kapitulierte er. »Ich bitte um Entschuldigung, Geser. Ich habe nicht geahnt, dass dieser Mensch ein potenzieller Anderer ist. Alles hat auf das Gegenteil hingewiesen… diese Briefe…»

»Und jetzt?«, brüllte Geser.

»Die Inquisition erkennt ihr… ihr voreiliges Verhalten an…«, sagte Viteszlav. »Die Moskauer Nachtwache hat das Recht, diesen… diesen Mann unter ihre Fittiche zu nehmen.«

»Und bei ihm eine Remoralisierung durchzuführen?«, hakte Geser nach. »Um ihn danach so zu initiieren, dass er sich dem Licht zuwendet? »

»Ja…«, flüsterte Viteszlav.

»In diesem Fall können wir den Konflikt als beigelegt betrachten.«Geser lächelte und klopfte Viteszlav auf die Schultern. »Nimm es nicht tragisch. Wir alle machen mitunter Fehler. Die Hauptsache ist doch, dass wir sie wieder korrigieren, oder?«

Eine eiserne Selbstbeherrschung hatte er, dieser alte europäische Blutsauger. »Gewiss, Geser…«, räumte er traurig ein.

»Habt ihr den abtrünnigen Anderen eigentlich geschnappt?«, wollte Geser wissen. Viteszlav schüttelte den Kopf.

»Was gibt denn das Gedächtnis von meinem Söhnchen her…«, fragte Geser laut. Er sah Timur Borissowitsch an, der bereits tipptopp angezogen dastand. »Ei, ei, ei… Oleg Strishenow. Der Filmstar aus den Sechzigern… Was für eine perfide Tarnung!«

»Der Verräter liebt wohl die alten russischen Filme?«, fragte Viteszlav.

»Anscheinend. Ich selbst hätte Innokenti Smoktunowski bevorzugt«, erwiderte Geser. »Oder Oleg Dal. Das ist eine aussichtslose Sache, Viteszlav. Der Verräter hat keine Spuren hinterlassen. »

»Und du hast keine Ahnung, wer er ist?«, fragte Viteszlav.

»Spekulieren könnte ich«, meinte Geser nickend. »In Moskau gibt es Tausende von Anderen. Jeder von ihnen kann eine fremde Gestalt annehmen. Will die Inquisition etwa von jedem einzelnen Anderen Moskaus das Gedächtnis überprüfen?«Viteszlav runzelte die Stirn.

»Eben, das würde nichts bringen«, versicherte Geser. »Ich könnte mich nicht einmal für meine eigenen Mitarbeiter verbürgen, geschweige denn für die Anderen, die nicht in den Wachen arbeiten.«

»Wir werden ihn in einen Hinterhalt locken«, erklärte Edgar. »Und wenn der Verräter erneut auftaucht…«

»Er wird nicht wieder auftauchen«, erklärte Viteszlav müde. »Das ist nicht mehr nötig.«

Lächelnd betrachtete Geser den düster dreinblickenden Vampir. Dann verlosch sein Lächeln mit einem Mal. »Ich bitte euch, die Wohnung meines Sohnes zu verlassen. Zur Unterzeichnung des Protokolls erwarte ich euch im Büro. Heute Abend um sieben Uhr.«

Viteszlav nickte und verschwand. Kurz darauf tauchte er jedoch wieder auf. Leicht konfus.

»Zu Fuß, zu Fuß«, erklärte Geser. »Ich habe das Zwielicht hier geschlossen. Vorsichtshalber.«

Ich tappte den Inquisitoren und Kostja hinterher, der über alle Maßen glücklich war, nach Hause zu können.

»Anton«, rief Geser mir nach. »Vielen Dank. Du hast gute Arbeit geleistet. Komm heute Abend zu mir.«

Ich antwortete nicht. Wir gingen an den noch immer völlig teilnahmslosen Bodyguards vorbei, und ich scannte sorgfältig die Aura desjenigen, der mir verdächtig vorgekommen war. Nein, kein Anderer. Ein Mensch. Lange würde ich jetzt kein Land sehen…

Der in seine Gedanken vertiefte Viteszlav schwieg und überließ Kostja und Edgar den langen Kampf mit den Schlössern. Nur einmal linste er zu mir herüber. »Lädst du mich auf einen Kaffee ein, Wächter?«, fragte er. Ich nickte. Warum eigentlich nicht?

Schließlich hatten wir denselben Fall bearbeitet. Und hatten uns gemeinsam blamiert - ungeachtet aller Lobesworte, die Geser für mich fand.

Sieben

Eine komische Gesellschaft: ein junger Vampir aus der Tagwache, zwei Inquisitoren und ein Lichter Magier.

Und alle saßen wir friedlich in der großen leeren Wohnung, warteten, bis das Wasser in der Mikrowelle heiß war, um löslichen Kaffee aufzubrühen. Ich hatte sogar Kostja erlaubt einzutreten, und jetzt saß er wieder auf dem Fensterbrett, allerdings auf der Innenseite. Nur Viteszlav stand.

»Ich bin nicht mehr an Russland gewöhnt«, sagte er, während er nachdenklich vor dem Fenster auf und ab ging. »Ich bin entwöhnt. Ich erkenne dieses Land nicht wieder.«