Und ich musste verstehen, wie Geser die Inquisition ausgetrickst hatte.
Denn wenn er etwas beim Licht geschworen hatte und das eine Lüge war… Wofür kämpfte ich dann?
»Soll doch alles…«, setzte ich an, verstummte dann aber. Du darfst nicht fluchen - das bringt man dir bereits in den ersten Tagen nach der Initiierung bei. Und jetzt hätte ich beinahe die Kontrolle verloren… Soll doch alles… Soll es doch einfach sein.
In dem Moment läutete es an der Tür. Als hätte jemand erraten, dass ich jetzt auf gar keinen Fall allein sein wollte.
»Herein!«, rief ich durchs Zimmer, denn ich erinnerte mich, dass die Tür nicht verschlossen war.
Die Tür ging auf, und Lass steckte den Kopf herein. Mein Nachbar sah sich um.
»Störe ich?«, fragte er. »Nein, komm rein.«
Lass kam ins Zimmer, sah sich um. »So schlimm sieht es hier doch gar nicht aus…«, kommentierte er. »Noch ein Klo… Vielleicht könnte ich mich noch mal hier duschen? Jetzt oder heute Abend… Das war nämlich nicht schlecht.«
Ich steckte die Hand in die Tasche und tastete nach dem Schlüsselbund. Stellte mir vor, wie die Schlüssel anschwollen und sich spalteten… Dann warf ich Lass das neu entstandene Bund zu. »Fang!«
»Warum das?«, fragte Lass, während er die Schlüssel betrachtete.
»Ich muss wegfahren. Du kannst die Wohnung solange nutzen.«
»Wo nun endlich mal ein normaler Mensch hier eingezogen ist«, schmollte Lass. »Das ist echt nicht nett. Fährst du bald weg?«
»Gleich«, antwortete ich. Mit einem Mal war mir klar geworden, wie dringend ich Swetka und Nadja sehen wollte. »Vielleicht komme ich noch mal wieder. »
»Vielleicht aber auch nicht?«Ich nickte.
»Das ist echt nicht nett«, wiederholte Lass und kam auf mich zu. »Ich habe hier bei dir einen MD-Player gesehen… Nimm das.«Ich nahm die kleine Scheibe an mich.
»Kampfprothesen«, erklärte Lass. »Mein Album. Hör sie aber nicht, wenn Frauen und Kinder in der Nähe sind! »
»Gut.«Ich drehte die Scheibe in den Händen. »Vielen Dank.«
»Hast du irgendwelche Probleme?«, fragte Lass. »Entschuldige, ich will mich nicht in deine Angelegenheiten einmischen, aber du siehst wirklich hundserbärmlich aus…«
»Nein, es ist nichts«, riss ich mich zusammen. »Ich vermisse meine kleine Tochter. Ich fahr jetzt zu ihr… Meine Frau ist mit ihr auf der Datscha, ich hatte hier noch was zu erledigen…«
»Das geht vor«, pflichtete Lass mir bei. »Man darf es einem Kind gegenüber nicht an Aufmerksamkeit mangeln lassen. Obwohclass="underline" Dass ihre Mutter bei ihr ist, ist natürlich das Wichtigste.«Ich starrte Lass an.
»Die Mutter ist trotz allem das Wichtigste für ein Kind«, behauptete Lass mit der Miene eines Wigotski, Piaget oder sonstigen Experten für Kinderpsychologie. »Das ist biologisch bedingt. Wir, die Männchen, denken doch in erster Linie an die Weibchen. Und die Weibchen eben an die Kinder.«
In die Wohnung von Timur Borissowitsch ließ man mich ohne Fragen. Die Bodyguards wirkten völlig normal und hatten anscheinend nicht die geringste Vorstellung davon, was hier kürzlich geschehen war.
Geser trank mit seinem frisch gebackenen Sohn Tee im Arbeitszimmer. Das große - fast möchte ich sagen: weitläufige - Arbeitszimmer mit dem massiven Schreibtisch, einem Haufen unnützer Kinkerlitzchen in den Regalen antiker Schränke. Erstaunlich, wie gut sich ihre Geschmäcker vergleichen ließen. Das Arbeitszimmer Timur Borissowitschs glich dem Büro seines Vaters auf ganz bemerkenswerte Weise.
»Komm rein, mein Freund«, lächelte mir Timur Borissowitsch zu. »Siehst du, wie prächtig sich alles gefügt hat.«Er schielte zu Geser hinüber. »Er ist noch jung, hitzköpfig…«, fügte er dann hinzu.
»Das mit Sicherheit«, pflichtete ihm Geser mit einem Nicken bei. »Was ist passiert, Anton?«
»Wir müssen miteinander reden«, sagte ich. »Unter vier Augen.«
Geser seufzte und sah seinen Sohn an. Der erhob sich. »Ich gehe mal zu meinen Kraftbolzen. Was sollen die sich da die Hosen durchsitzen, die brauchen eine Aufgabe.«
Timur Borissowitsch ging hinaus, Geser und ich blieben allein zurück.
»Raus mit der Sprache, was ist passiert, Gorodezki?«, fragte Geser müde. »Können wir offen reden?«
»Ja.«
»Sie wollten nicht, dass Ihr Sohn ein Dunkler wird«, fing ich an. »Das stimmt doch, oder?«
»Würdest du denn zusehen wollen, wie deine Nadjuschka eine Dunkle Zauberin wird?«, antwortete Geser mit einer Gegenfrage.
»Aber Timur wäre unweigerlich zu einem Dunklen geworden«, fuhr ich fort. »Sie brauchten das Recht auf eine Remoralisierung. Deshalb mussten die Dunklen, besser noch die Inquisition in Panik geraten und eine nicht zu rechtfertigende Manipulation an Ihrem Sohn vornehmen…«
»So ist es ja auch gekommen«, sagte Geser. »Also Gorodezki, willst du mir etwas zur Last legen? »
»Nein, ich will das Ganze bloß verstehen.«
»Du warst doch dabei, als ich beim Licht einen Schwur abgelegt habe. Ich habe Timur noch nie zuvor getroffen. Ich habe ihm nichts versprochen, ich habe keine Briefe abgeschickt. Und ich habe niemanden für diese Aufgabe angeworben.«
Nein, Geser rechtfertigte sich nicht. Und versuchte nicht, mich einzulullen. Er legte bloß die Bedingungen der Aufgabe dar und wartete vergnügt, welche Antwort sein Schüler geben würde.
»Viteszlav hätte nur noch eine weitere Frage stellen müssen«, meinte ich. »Doch diese Frage war wohl allzu menschlich für ihn…«
Geser zwinkerte, als probe er ein Nicken. »Seine Mutter«, sagte ich.
»Viteszlav hat seine eigene Mutter umgebracht«, erklärte Geser. »Nicht aus böser Absicht. Er war ein junger Vampir und hatte sich nicht unter Kontrolle. Aber… seit dieser Zeit vermeidet er es, dieses Wort auszusprechen. »
»Wer ist Timurs Mutter? »
»Im Dossier müsste ihr Name stehen.«
»Da kann jeder x-beliebige Name stehen. Es heißt, Timurs Mutter sei bei Kriegsende verschwunden… Aber ich kenne eine Frau, eine Andere, die zu dieser Zeit in einen Vogelkörper gebannt worden ist. Nach dem Dafürhalten der Menschen ist sie gestorben.«Geser schwieg. »Konnten Sie ihn wirklich nicht früher finden?«, fragte ich.
»Wir waren davon überzeugt, dass Timur tot ist«, antwortete Geser leise. »Es war Olga, die sich nicht damit abfinden wollte. Und nachdem sie rehabilitiert worden war, machte sie sich wieder auf die Suche…«
»Sie hat ihren Sohn gefunden. Und ihm das voreilige Versprechen gegeben«, schloss ich.
»Frauen dürfen sich solche Gefühle leisten«, sagte Geser trocken. »Selbst die weisesten Frauen. Aber Männer sind dazu da, ihre Frau, ihr Kind zu verteidigen. Das ist alles sehr rational und überlegt organisiert.«Ich nickte. »Verurteilst du mich?«, wollte Geser neugierig wissen. »Anton?«
»Wer bin ich, Sie zu verurteilen?«, entgegnete ich. »Ich habe selbst eine Tochter, eine Lichte. Und die würde ich auch nicht dem Dunkel überlassen.«
»Danke, Anton.«Geser nickte und entspannte sich merklich. »Ich bin froh, dass du mich verstehst.«
»Ich frage mich nur, wie weit Sie für Ihren Sohn und Olga gegangen wären«, bemerkte ich. »Swetlana hat doch etwas gespürt, nicht wahr? Welche Gefahr hat mir gedroht?«
Geser zuckte mit den Schultern. »Vorgefühle, darauf darf man sich nicht verlassen.«
»Wenn ich beschlossen hätte, der Inquisition die Wahrheit zu sagen…«, fuhr ich fort. »Wenn ich beschlossen hätte, aus der Wache in die Inquisition überzuwechseln… Was wäre dann gewesen?«
»Du bist nicht übergewechselt«, erwiderte Geser. »Obwohl Viteszlav sehr um dich geworben hat. Was noch, Anton? Ich spüre, dass dir noch eine Frage auf der Zunge liegt.«
»Wie kommt es, dass Ihr Sohn ein Anderer ist?«, fragte ich. »Das ist doch ein Glücksspiel. Nur selten bekommen Andere auch ein Kind mit den Anlagen zum Anderen.«
»Anton, entweder gehst du jetzt zu Viteszlav und legst ihm deine Überlegungen dar«, meinte Geser leise, »oder du machst dich auf zu Swetlana, wie du es ohnehin vorhattest. Aber verschon mich mit diesem Verhör.«