Ich hüllte mich in Schweigen. Diese Möglichkeit durften wir in der Tat nicht außer Acht lassen.
»Er wirkt nicht wie ein Anderer«, bemerkte Kostja leise. Er saß bloß in Unterhose im Bett, schweißgebadet und schwer atmend.
Offenbar hatte er zu lange im Körper einer Fledermaus Unfug getrieben. »Ich habe ihn im Assol überprüft. Mit allen Mitteln. Und jetzt auch… Er wirkt nicht wie ein Anderer.«
»Wir beiden haben auch noch ein Wörtchen miteinander zu reden«, fuhr ihn Edgar an. »Warum bist du direkt vor seinem Fenster herumgeflattert? »
»Ich habe ihn beobachtet.«
»Hättest du nicht an die Decke fliegen und dich kopfüber da hinhängen können?«
»Bei einer Geschwindigkeit von hundert Stundenkilometern? Ich bin zwar ein Anderer, aber die Gesetze der Physik kann ich nicht ändern. Es hätte mich fortgerissen!«
»Aber die Physik hindert dich nicht daran, mit einer Geschwindigkeit von hundert Stundenkilometern zu fliegen? Du kannst dich halt bloß nicht auf das Dach des Zuges setzen, ja?«
Kostja zog die Brauen zusammen und hüllte sich in Schweigen. Er langte nach seinem Jackett und beförderte eine kleine Flasche zu Tage. Und trank einen Schluck, irgendein dickes dunkelrotes, fast schwarzes Zeug.
Edgar runzelte die Stirn. »Was ist? Brauchst du bald was… zu essen?«
»Wenn ich mich nicht mehr transformieren muss, erst morgen Abend.«Kostja schüttelte die Flasche. Etwas gluckerte träge. »Zum Frühstück reicht es noch.«
»Ich könnte… angesichts der besonderen Umstände…«Edgar schielte zu mir herüber. »… dir eine Lizenz geben.«
»Nein«, sagte ich schnell. »Das würde den derzeitigen Status quo zerstören.«
»Konstantin steht jetzt in Diensten der Inquisition«, erinnerte mich Edgar. »Die Lichten werden entsprechend Kompensation erhalten. »
»Nein«, wiederholte ich.
»Er braucht Nahrung. Und die Menschen in diesem Zug sind vermutlich eh alle verdammt. Alle, bis auf den letzten.«Kostja schwieg. Sah mich an. Ohne zu lächeln, völlig ernst…
»Dann verlasse ich den Zug«, sagte ich. »Dann könnt ihr machen, was ihr wollt.«
»Jetzt spricht die Nachtwache aus dir«, brachte Kostja leise heraus. »Du wäschst deine Hände in Unschuld, nicht wahr? Das macht ihr ja immer. Ihr selbst weist uns die Menschen zu - um dann abfällig das Gesicht zu verziehen.«
»Ruhe jetzt!«, brüllte Edgar, indem er sich erhob und sich zwischen uns stellte. »Und zwar alle beide! Wenn ihr euch streiten wollt, verschiebt das auf später! Kostja, brauchst du eine Lizenz? Oder kannst du noch durchhalten?«
»Ich brauche keine Lizenz«, antwortete Kostja kopfschüttelnd. »In Tambow machen wir Halt, da verschwinde ich kurz und fang mir ein paar Katzen.«
»Warum gerade Katzen?«, wollte Edgar wissen. »Warum nicht… äh… beispielsweise Hunde?«
»Es würde mir leid tun, einen Hund zu töten«, erklärte Kostja. »Bei Katzen ist es eigentlich genauso… aber wo kriege ich denn in Tambow eine Kuh oder ein Schaf her? Und auf den kleinen Bahnhöfen hält der Zug nicht lange.«
»Du bekommst in Tambow einen Hammel«, versprach Edgar. »Wir brauchen… der Mythenbildung keine neue Nahrung zu geben. So hat schließlich einmal alles angefangen: Jemand findet eine blutlose Tierleiche, schreibt einen Artikel für ein Boulevardblatt…«
Er holte sein Handy heraus und wählte eine eingespeicherte Nummer. Er musste lange warten, bis der friedlich schlafende Mensch endlich ranging.
»Dmitri? Spar dir das Gejammer, zum Schlafen ist jetzt keine Zeit, die Heimat ruft…«Er schielte zu uns herüber. »Einen ganz herzlichen und hochoffiziellen Gruß von Solomon«, sagte Edgar dann betont.
Eine Zeit lang schwieg Edgar, entweder um dem Menschen Zeit zu lassen, zu sich zu kommen, oder um sich die Antwort anzuhören.
»Ja. Edgar. Erinnerst du dich noch? Genau der«, sagte Edgar. »Wir haben dich nicht vergessen. Und jetzt bräuchten wir deine Hilfe. In vier Stunden macht in Tambow der Zug MoskauAlmaty Halt. Wir brauchen einen Hammel. Was?«
Eine Sekunde lang hielt Edgar das Handy vom Ohr weg und legte die Hand darüber. »Was für Esel, diese angeheuerten Leute!«, empörte sich Edgar.
»Einen Esel würde ich auch nehmen«, feixte Kostja.
Dann sprach Edgar wieder ins Handy. »Nein, nicht du. Ja, ein Hammel. Ein Tier. Oder ein Schaf. Oder eine Kuh. Das ist mir egal. In vier Stunden wartest du mit dem Tier in der Nähe des Bahnhofs. Nein, ein Hund geht nicht! Weil es eben nicht geht! Nein, niemand wird ihn essen. Das Fleisch und das Fell kannst du mitnehmen. Das war's, ich melde mich wieder, kurz bevor wir ankommen.«
Damit beendete Edgar das Gespräch. »In Tambow müssen wir mit einem sehr bescheidenen… Kontingent zurechtkommen«, erklärte er. »Momentan gibt es dort keine Anderen, nur Menschen, die wir angeheuert haben.«
»Oh, oh«, konnte ich nur sagen. In den Wachen haben noch nie Menschen gearbeitet.
»Manchmal kommt man da nicht drum herum«, meinte Edgar nebulös. »Aber keine Sorge, er wird das schon schaffen. Schließlich wird er dafür bezahlt. Du kriegst deinen Hammel, Kostja.«
»Danke«, erwiderte Kostja friedlich. »Ein Schaf wäre natürlich besser gewesen. Aber ein Hammel tut's auch.«
»Habt ihr die kulinarische Diskussion jetzt beendet?«, konnte ich mir nicht verkneifen. »Unsere Kampffähigkeit ist ebenfalls ein wichtiger Faktor…«, brachte Edgar mit Nachdruck hervor. »Du bleibst also dabei, dass bei diesem… Lass… eine magische Intervention vorgenommen worden ist?«
»Ja. Heute Morgen. Ihm ist der Wunsch eingegeben worden, mit dem Zug nach Alma-Ata zu fahren.«
»Sinnvoll wäre das schon«, meinte Edgar. »Wenn du die Spur nicht entdeckt hättest, hätten wir ihn vermutlich für unseren Mann gehalten. Und hätten jede Menge Kraft und Zeit mit ihm vergeudet. Aber das heißt…«
»Dass der Täter mit den Fällen der Wachen aufs Beste vertraut ist«, meinte ich nickend. »Er weiß über die Ermittlungen im Assol Bescheid, weiß, wen wir in Verdacht hatten. Das heißt…«
»Jemand von ganz oben«, pflichtete mir Edgar bei. »Fünf, sechs Andere aus der Nachtwache, genauso viele aus der Tagwache. Sagen wir mal insgesamt zwei Dutzend… Das sind immer noch sehr, sehr wenige. »
»Oder jemand von der Inquisition«, gab Kostja zu bedenken.
»Nun mach mal halb lang! Und nenn mir einen Namen, Freundchen! Einen Namen!«Edgar grinste. »Wer?«
»Viteszlav.«Kostja schwieg kurz und fügte dann hinzu: »Zum Beispiel.«
Ein paar Sekunden lang glaubte ich, der normalerweise so unerschütterliche Dunkle Magier würde aufs Übelste losschimpfen. Obendrein mit baltischem Akzent. Doch Edgar riss sich zusammen. »Nach deiner Transformation musst du doch sehr müde sein, oder, Konstantin? Vielleicht solltest du dich schlafen legen?«
»Edgar, ich bin jünger als du, aber wir beide, du und ich, sind die reinsten Wickelkinder im Vergleich zu Viteszlav«, erwiderte Kostja gelassen. »Was haben wir denn gesehen? Einen Anzug voller Asche. Haben wir die Asche persönlich überprüft?«Edgar hüllte sich in Schweigen.
»Ich bin nicht sicher, dass man die Überreste eines Vampirs bestimmen kann…«, warf ich ein.
»Weshalb sollte Viteszlav…«, setzte Edgar an.
»Macht«, sagte Kostja lakonisch.
»Was hat Macht damit zu tun? Wenn er das Buch hätte stehlen wollen, warum hat er dann seinen Fund erst bekannt gegeben? Er hätte es klammheimlich an sich nehmen und verschwinden können. Als er es gefunden hat, war er allein! Verstehst du? Allein!«
»Vielleicht hat er nicht gleich begriffen, was er da gefunden hatte«, parierte Kostja. »Oder sich nicht sofort zu dem Verbrechen durchgerungen. Aber den eigenen Tod zu inszenieren und mit dem Buch unterzutauchen, während wir seinen Mörder jagen, ist ein brillanter Schachzug!«
Edgars Atem beschleunigte sich. »Gut«, meinte er. »Ich werde darum bitten, das man dem nachgeht. Ich setze mich gleich mit… mit den Hohen in Moskau zusammen und bitte sie, die Asche zu überprüfen.«
»Vorsichtshalber solltest du auch Geser und Sebulon bitten, die Überreste zu prüfen«, riet Kostja. »Wir können nicht sicher sein, dass die beiden nichts mit der Sache zu tun haben.«