»Das ist klar… Sonst noch was?«
»Nein, Anton. Ich hatte gehofft, sie könne uns einen Hinweis geben… Aber ich habe mich geirrt. »
»Gut. Vielen Dank. Ich liebe dich.«
»Ich dich auch. Schlaf gut. Ich bin überzeugt, dass morgen früh alles besser aussieht…«
Das dünne Fädchen, das zwischen uns gespannt gewesen war, riss. Ich zuckte zusammen, dann machte ich es mir gemütlich. Schließlich hielt ich es nicht mehr aus und schaute zum Tisch hinunter.
Die Nadel des»Kompasses«drehte sich nach wie vor. Das Fuaran war im Zug.
Nachts wachte ich zwei Mal auf. Einmal, als einer der Inquisitoren zu Edgar kam, um ihm zu berichten, dass sie bestimmte Beweise nicht hatten entdecken können. Das zweite Mal, als der Zug in Tambow hielt und Kostja sich leise aus dem Abteil schlich.
Erst nach zehn stand ich auf.
Edgar trank Tee. Kostja, rosig und frisch, kaute ein Wurstbrot. Die Nadel drehte sich. Alles wie gehabt.
Ich zog mich gleich im Bett an und sprang nach unten. Zu meinem Bettzeug gehörte ein winziges Stück Seife - das war jedoch alles, was mir für meine Körperpflege zur Verfügung stand.
»Nimm das«, brummte Kostja und reichte mir eine Plastiktüte. »Ich habe was besorgt… in Tambow…«
In der Tüte entdeckte ich ein Päckchen Einwegrasierklingen und eine kleine Flasche mit Rasiercreme von Gillette, eine Zahnbürste und Zahncreme der Marke Neue Perle.
»Eau de Cologne habe ich vergessen«, fügte Kostja hinzu. »Ich habe nicht daran gedacht.«
Kein Wunder, dass er es vergessen hatte. Vampire und Tiermenschen haben etwas gegen starke Gerüche. Ob vielleicht auch die Wirkung des Knoblauchs, der im Grunde für Vampire absolut unschädlich ist, darauf beruht, dass er Vampire daran hindert, ihre Opfer zu wittern? »Danke«, sagte ich.
»Was kriegst du?«Kostja winkte ab.
»Ich habe ihm schon Geld gegeben«, teilte Edgar mit. »Du bekommst übrigens auch Tagegeld für eine Dienstreise. Fünfzig Dollar pro Tag plus die Summe für die Verpflegung, die du mit Quittungen nachweisen kannst.«
»Die Inquisition lebt nicht schlecht«, stichelte ich. »Gibt es Neuigkeiten?«
»Geser und Sebulon versuchen, alles über die Gebeine von Viteszlav herauszubekommen.«So drückte er sich aus, die Gebeine, feierlich und offiziell. »Es ist schwierig, etwas zu sagen.
Du weißt ja: Je älter ein Vampir, desto weniger bleibt von ihm nach dem Tod übrig…«
Kostja kaute konzentriert sein Brot.
»Ja«, pflichtete ich ihm bei. »Ich geh mich mal waschen.«
Im Waggon waren bereits fast alle wach, nur bei ein paar Abteilen, wo es gestern Abend heiß hergegangen war, waren die Türen noch geschlossen. Nachdem ich in der kurzen Schlange angestanden hatte, zwängte ich mich in das Zugklo mit seinem Armeekomfort. Das warme Wasser kam in einem dünnen Strahl träge aus dem Hahn. Die polierte Stahlfolie, die den Spiegel ersetzte, war seit langem über und über mit kleinen Spritzern übersät. Während ich mir die Zähne mit der harten Zahnbürste aus China putzte, ließ ich mir mein nächtliches Gespräch mit Sweta noch einmal durch den Kopf gehen.
Irgendwas Wichtiges hatte sich zwischen ihren Worten versteckt. Es war da - aber weder Swetlana noch ich verstanden es. Dabei musste ich es verstehen.
Als ich ins Abteil zurückkehrte, war ich der Wahrheit zwar kein Stück näher gekommen, hatte aber eine Idee, die mir Erfolg versprechend schien. Meine Reisegefährten hatten ihr Frühstück bereits beendet. Ich schloss die Tür und packte den Stier gleich bei den Hörnern. »Edgar, ich habe eine Idee. Deine Jungs sollen auf einem langen Streckenabschnitt die Waggons abkoppeln. Einen nach dem andern. Einer von ihnen soll den Maschinisten kontrollieren, damit der Zug nicht anhält. Wir behalten den»Kompass«im Auge. Sobald der Waggon mit dem Buch abgekoppelt ist, zeigt die Nadel uns das an. »
»Ja und?«, fragte Edgar desinteressiert.
»Wir orten das Buch. Mit der Genauigkeit von einem Waggon. Dann können wir den Waggon umstellen und jeden Fahrgast einzeln mit seinem Gepäck herauslotsen. Sobald wir den Mörder haben, wird die Nadel uns das zeigen. Das war's! Dann brauchen wir den Zug nicht zu sprengen!«
»Ich habe auch schon darüber nachgedacht«, gab Edgar ungern zu. »Es gibt ein einziges Argument dagegen, das ist jedoch ausschlaggebend. Der Täter wird merken, was im Gang ist. Und könnte als Erster zuschlagen.«
»Dann kommen eben auch Geser, Sebulon, Swetlana, Olga… haben die Dunklen noch weitere starke Magier?«Ich sah Kostja an.
»Die werden sich finden«, wich Kostja aus. »Reichen unsere Kräfte denn? »
»Gegen einen einzigen Anderen?«
»Der nicht irgendein Anderer ist«, erinnerte mich Edgar. »Der Legende zufolge haben sich mehrere hundert Magier zusammengefunden, um Fuaran zu töten.«
»Dann werden auch wir unsere Kräfte zusammenziehen. Die Nachtwache hat fast zweihundert Mitarbeiter, in der Tagwache sind es nicht weniger. Hinzu kommen noch Hunderte von Reservisten. Jede Seite kann mindestens tausend Andere aufstellen.«
»Die in der Regel schwach sind, sechster, siebter Grad. Die echten Magier, vom dritten Grad an aufwärts, zählen nicht mehr als ein paar Hundert.«Edgar sprach so überzeugt, dass kein Zweifel aufkommen konnte: Er hatte die Variante eines direkten Kräftemessens tatsächlich schon in Gedanken durchgespielt. »Das könnte reichen, wenn die Dunklen und die Lichten durch Inquisitoren unterstützt werden, die Amulette einsetzen und beide Kräfte vereinen. Aber es muss nicht reichen. Dann würden die stärksten Kämpfer sterben, und der Täter hätte freie Hand. Meinst du nicht, dass er genau darauf hofft?«Ich schüttelte den Kopf.
»Darüber habe ich nämlich schon nachgedacht«, meinte Edgar mit düsterer Genugtuung. »Der Täter kann den Zug als Falle benutzen, in die alle starken Magier Russlands tappen. Er könnte den ganzen Zug mit Zaubern beladen haben, die wir nicht spüren.«
»Warum machen wir uns dann überhaupt noch die Mühe?«, fragte ich. »Warum sind wir dann hier? Eine Atombombe - und alle unsere Probleme wären gelöst.«
»Ja«, meinte Edgar nickend. »Wir brauchten eine Atombombe, denn sie geht durch alle Schichten des Zwielichts hindurch. Aber zunächst müssen wir sicherstellen, dass uns das Zielobjekt nicht im letzten Moment entwischt. »
»Schlägst du dich jetzt auf Sebulons Seite?«, wollte ich wissen.
Edgar seufzte. »Ich schlage mich auf die Seite des gesunden Verstandes. Bei einer vollständigen Überprüfung des Zuges unter Hinzuziehung etlicher Kräfte droht uns ein magisches Gemetzel. Die Menschen sterben jedoch so oder so. Sprengen wir den Zug - ja, dann würden mir die Menschen leid tun. Aber immerhin würden wir auf diese Weise weltweite Konflikte vermeiden. »
»Aber wenn es noch eine Chance gibt…«, setzte ich an.
»Die gibt es«, pflichtete Edgar mir bei. »Deshalb schlage ich vor, unsere Suche fortzusetzen. Kostja und ich schnappen uns meine Jungs als Hilfe und durchkämmen den Zug - gleichzeitig vom ersten und vom letzten Waggon aus. Wir werden Amulette einsetzen und gegebenenfalls versuchen, den Verdächtigen durchs Zwielicht zu überprüfen. Und du sprich noch mal mit Lass. Schließlich gehört er immer noch zu unseren Verdächtigen.«
Ich zuckte mit den Schultern. All das erinnerte mich bloß schrecklich an die Imitation einer Suche. Im tiefsten Herzen hatte Edgar bereits kapituliert. »Wann ist die Stunde X?«, fragte ich.
»Morgen Abend«, antwortete Edgar. »Wenn wir durch die menschenleeren Landstriche bei Semipalatinsk kommen. Dort sind sowieso schon Bomben gezündet worden… ein taktischer Sprengkörper mehr richtet dort keinen großen Schaden an. »
»Erfolgreiche Jagd«, sagte ich und ging aus dem Abteil.
Das war doch Wahnsinn. Das alles war nur eine Zeile in einem Bericht, an dem Edgar innerlich schon schrieb. »Ungeachtet der ergriffenen Maßnahmen konnten weder der Täter lokalisiert noch das Fuaran sichergestellt werden…«