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Die Nadel des»Kompasses«zitterte, hielt aber die Richtung. Der Abstand veränderte sich nicht: zehn, zwölf Kilometer. Kostja musste sich ausgezogen und in eine Fledermaus verwandelt haben. Oder in sonst ein Tier. In eine gigantische Ratte, einen Wolf. Egal. Er hatte sich in eine Fledermaus verwandelt und flog dem Zug hinterher, dabei das Bündel mit seinen Sachen und das Buch in den Pfoten haltend. Wo hatte er es eigentlich versteckt gehabt, der Dreckskerl? Am Körper? In einer geheimen Tasche in seiner Kleidung?

Ein Dreckskerl, sicher… aber wie abgebrüht! Wie mies und wie mutig - auf sich selbst Jagd zu machen, sich Versionen auszudenken, zu beratschlagen… Alle hatte er zum Besten gehalten.

Aber wozu? Wollte er absolute Macht? Letzten Endes standen die Chancen für einen Sieg nicht gut, und Kostja hatte sich noch nie durch besonderen Ehrgeiz ausgezeichnet. Das heißt: Er war ehrgeizig, erhob jedoch keine verrückten Ansprüche, die Weltherrschaft zu erlangen.

Weshalb floh er jetzt eigentlich nicht? An seinen Händen klebte das Blut von drei Inquisitoren. Das wird man ihm nie verzeihen, selbst wenn er mit einem Geständnis ankommt, selbst wenn er das Buch rausrückt. Er müsste fliehen… und sicherheitshalber das Buch vernichten, an das der Suchzauber gekoppelt ist. Aber nein, er schleppt das Buch mit sich rum und folgt dem Zug. Was für ein Wahnsinn… Oder hoffte er immer noch auf einen Dialog?

»Wie wolltest du Viteszlav unter den Mitreisenden ausmachen?«, fragte ich Edgar.

»Wie bitte?«, erwiderte der in seine Gedanken versunkene Inquisitor nach einer Weile. »Eine dumme Frage. Natürlich auf die gleiche Weise, wie es dir gelungen ist: mit der Unverträglichkeit von Alkohol. Wir hätten uns weiße Kittel angezogen und wären als medizinische Inspektoren durch alle Waggons gegangen. Mit der Begründung, Kranke mit einer atypischen Lungenentzündung zu suchen. Jedem hätten wir ein Thermometer gegeben, das tief in Alkohol getaucht worden war. Wer es nicht in den Händen halten konnte oder Verbrennungen davontrug, wäre unser Verdächtiger gewesen.«

Ich nickte. Freilich, es hätte auch schief gehen können. Und natürlich wären wir dabei ein Risiko eingegangen - aber etwas zu riskieren, das ist unsere Arbeit. Die Großen wären in der Nähe gewesen, »auf Abruf«, um im Notfall mit ganzer Kraft zuzuschlagen.

»Das Portal öffnet sich…«Edgar packte mich beim Arm und zog mich auf die Liege. Wir setzten uns nebeneinander hin, mit untergeschlagenen Beinen. Im Abteil breitete sich ein flackerndes weißes Licht aus. Ein leiser Aufschrei war zu hören: Geser hatte sich beim Verlassen des Portals den Kopf an einer der Liegen gestoßen.

Nach ihm tauchte Sebulon auf, der im Unterschied zum Chef rundum zufrieden wirkte und lächelte.

Geser rieb sich den Schädel und sah uns böse an. »Warum habt ihr das Portal nicht gleich in einem Auto aufgehängt…«, brummte er. »Wie ist die Lage?«

»Die Reisenden haben sich beruhigt, das Blut ist aufgewischt, der Verletzte ist behandelt«, berichtete Edgar. »Der Verdächtige Konstantin Sauschkin bewegt sich parallel zum Zug mit einer Geschwindigkeit von 70 Stundenkilometern.«

»Jetzt ist er also… unser Verdächtiger…«, brachte Sebulon giftig hervor. »Dabei war er so ein begabter Junge… so aussichtsreich.«

»Du hast kein Glück mit den Aussichtsreichen, Sebulon«, bemerkte Edgar leise. »Irgendwie kannst du sie nicht halten.«

Die beiden Dunklen Magier maßen sich mit kalten Blicken. Edgar hatte mit Sebulon noch eine Rechnung zu begleichen, die auf die Geschichte mit Fafnir und der finnischen Sekte zurückging. Niemand macht gern den Bauern.

»Sparen Sie sich Ihre Sticheleien, meine Herren«, bat Geser. »Sonst hätte ich dazu auch noch etwas zu sagen… was sowohl dich beträfe, Sebulon, als auch dich, Edgar… Wie stark ist er?«

»Sehr stark«, antwortete Edgar, den Blick unverwandt auf Sebulon gerichtet. »Der Junge war ohnehin schon ein Hoher…»

»Vampir.«Sebulon grinste verächtlich.

»Ein Hoher Vampir. Sicher, es mangelte ihm an Erfahrung… da konnte er mit Ihnen nicht mithalten. Aber mit Hilfe des Buches ist er stärker als Viteszlav geworden. Und das will etwas heißen. Ich neige der Auffassung zu, dass Viteszlav mit Ihnen auf einer Stufe stand, verehrte Große.«

»Wie hat er Viteszlav getötet?«, fragte Sebulon. »Gibt es dafür schon eine Erklärung?«

»Jetzt ja«, meinte Edgar. »Vampire haben ihre eigene Hierarchie. Der Junge hat ihn zu einem Duell um die Führungsposition herausgefordert. Das ist… kein Vergnügen. Ein Zweikampf des Verstandes, ein Duell des Willens. Etwas in der Art wie das Ausguckspiel. Ein paar Sekunden lang starren sich die beiden in die Augen, dann gibt einer nach und unterwirft sich vollständig dem Willen des Gegners. Wann immer die Inquisition es mit Vampiren zu tun bekam, hat Viteszlav sie sich alle problemlos gefügig gemacht. Aber dieses Mal hat er das Spiel verloren. »

»Und ist daran gestorben«, sagte Sebulon.

»Was nicht zwangsläufig so sein musste«, stellte Edgar fest. »Kostja hätte ihn auch zu seinem Sklaven machen können. Aber… entweder hatte er Angst, die Kontrolle über ihn zu verlieren, oder er wollte die Sache bis zum bitteren Ende durchziehen. Kurzum, er hat Viteszlav befohlen, sich zu dematerialisieren. Und der musste ihm gehorchen.«

»Ein talentierter Junge«, bemerkte Geser in ironischem Ton. »Ich kann nicht behaupten, dass der endgültige Tod Viteszlavs mich sonderlich betrübt… Aber gut, Konstantin ist jetzt stärker als Viteszlav. Schätz mal seine Kraft ein!«

Edgar zuckte mit den Achseln. »Wie denn? Er ist stärker als ich. Vermutlich stärker als jeder von Ihnen. Möglicherweise sogar stärker als wir alle zusammen.«

»Nur keine Panik«, murmelte Sebulon. »Er ist unerfahren. Magie ist kein bloßes Kräftemessen, Magie ist eine Kunst. Wenn du einen Degen in Händen hältst, ist es wichtig, präzise zuzustoßen, nicht, mit aller Wucht zuzuschlagen…«

»Ich kriege keine Panik«, meinte Edgar leise. »Ich schätze nur seine Kraft ein. Sie ist sehr hoch. Ich habe den»Kristallschild«gegen ihn eingesetzt - und Kostja hätte ihn beinahe eingedrückt.«

Die Großen wechselten beredte Blicke. »Den»Kristallschild«drückt niemand ein«, bemerkte Geser. »Wie kommst du überhaupt zu… ach ja, klar. Die Artefakte aus den Spezialdepots.«

»Er hätte den»Schild«beinahe zerquetscht«, wiederholte Edgar.

»Und wie hast du das überlebt?«, fragte Geser mich. Vielleicht bildete ich es mir nur ein, vielleicht schwang in seiner Stimme aber tatsächlich ein Hauch von Mitleid mit.

»Kostja wollte mich nicht umbringen«, erklärte ich schlicht. »Er hat sich auf Edgar gestürzt… Als Erstes habe ich mit der»grauen Andacht«auf ihn eingeschlagen«- Geser nickte zustimmend -, »dann habe ich eine Flasche Wodka zu fassen gekriegt und ihm davon etwas ins Gesicht gespritzt. Kostja ist ausgerastet. Trotzdem wollte er mich nicht umbringen. Dann hat er sich die Inquisitoren vorgenommen, sie zerfetzt und ist geflohen.«

»Typisch Russe-. Probleme mit einem Glas Wodka zu lösen«, kommentierte Geser finster. »Weshalb? Weshalb hast du ihn so auf die Palme gebracht? Er ist schließlich kein Anfänger mehr. Ist dir denn wirklich nicht klar, dass du gegen ihn keine Chance gehabt hättest? Dass ich dann Swetlana deine Überreste hätte bringen können?«

»Ich bin genauso ausgerastet wie er«, gab ich zu. »Das kam alles zu überraschend. Und dann wollte Kostja mich auf seine Seite ziehen: »Komm mit mir mit, ich will dir nichts Böses«.

»Ich will dir nichts Böses«, echote Geser bitter. »Ein reformorientierter Vampir. Ein progressiver Herrscher über die Welt…«

»Geser, wir müssen eine Entscheidung treffen«, sagte Sebulon leise. »Ich kann Jagdflugzeuge vom Militärflughafen aus losschicken.«Die Magier schwiegen.

Ich stellte mir vor, wie reaktive Jagdflugzeuge über den Nachthimmel einer Fledermaus nachsetzten, sie beschossen und Raketen auf sie abfeuerten… Eine Phantasmagorie.

»Dann eher Hubschrauber…«, sagte Geser nachdenklich. »Nein, das ist Quatsch, Sebulon. Er wird die Menschen aus dem Weg räumen. »