Ich sah auf den»Kompass«. Der Abstand zwischen uns und Kostja begann sich zu vergrößern. Ob er wie eine Fledermaus geflogen oder wie der Graue Wolf aus dem Märchen gerannt war - jetzt hielt er jedenfalls an.
Geser hatte interessanterweise noch nicht einmal auf den»Kompass«geschaut.
»Der Flughafen«, sagte er voller Genugtuung. »Schluss jetzt, der Worte sind genug gewechselt. Geh. Schnapp dir jemandem mit einem guten Auto und sieh zu, dass du zum Flughafen kommst.«
»Aber…«, setzte ich an. »Keine Artefakte, das würde er wittern«, widersprach Geser gelassen. »Und keine Partner. Momentan spürt er uns alle, verstehst du? Alle! Los!«
Die Bremsklötze zischten, der Zug hielt an. Einen Moment lang blieb ich in der Tür stehen und hörte: »Ja, mit der»grauen Andacht«. Nur nichts Kompliziertes. Wir pumpen dich so voll, dass es ihn auf dem Flugfeld zu Brei zerquetscht.«
In Ordnung. Der Chef war anscheinend der Ansicht, ich bräuchte nicht mehr mit ihm zu reden. Er hörte meine Gedanken, bevor ich sie in Worte gebracht hatte.
Im Gang ging ich an Sebulon vorbei - und zuckte unwillkürlich zusammen, als der mir aufmunternd auf den Rücken klopfte.
Sebulon nahm es nicht krumm. »Viel Erfolg, Anton!«, wünschte er mir. »Du bist unsere Hoffnung.«
Die Menschen saßen friedlich in ihren Abteilen. Nur der Zugführer, der etwas in ein Mikrofon sprach, begleitete mich mit gläsernem Blick.
Ich öffnete die Zugtür selbst, ließ das Trittbrett herunter und sprang auf den Bahnsteig. Alles irgendwie ziemlich schnell. Zu schnell…
Auf dem Bahnhof herrschte das übliche Gedränge. Eine laute Reisegesellschaft, die aus dem Nachbarwaggon ausstieg, fragte grölend: »Wo bleiben denn die Omas mit unserm guten Tröpfchen?«
Die»Omas«im Alter von zwanzig bis siebzig Jahren kamen bereits auf den Ruf herbeigeeilt. Jetzt würde es Bier und Wodka und gebratenen Schinken und Piroggen mit zweifelhafter Füllung geben. »Anton!«
Ich drehte mich um. Neben mir stand Lass mit einer Tasche über der Schulter. In seinem Mund steckte eine nicht angezündete Papirossa, er machte einen zufriedenen und aufgeräumten Eindruck.
»Steigst du auch aus?«, fragte Lass. »Kann ich dich vielleicht irgendwo absetzen? Mein Auto wartet hier. »
»Ist es ein gutes Auto?«, hakte ich nach.
»So was wie ein VW.«Lass runzelte die Stirn. »Geht der? Oder fährst du nur im Cadillac?«
Ich drehte mich zurück zum Fenster unseres Waggons. Geser, Sebulon und Edgar sahen mich an.
»Der geht«, sagte ich finster. »Also… tut mir leid. Ich hab's wirklich ziemlich eilig, da brauchte ich ein Auto. Ich bekehre dich zum…«
»Was stehen wir dann hier rum, wenn du es eilig hast? Gehen wir«, meinte Lass und ließ mich damit die Standardformel zur Anwerbung eines Freiwilligen nicht zu Ende sprechen.
Er fädelte sich so geschickt in die Menge ein, dass mir nichts weiter übrig blieb, als ihm zu folgen.
Wir schlugen uns durch die Menschenmenge und erreichten den Platz vor dem Bahnhofsgebäude. Ich schloss zu Lass auf, packte ihn bei der Schulter. »Ich bekehre dich zum…«
»Da, ich seh ihn schon!«Lass schüttelte meine Hand ab. »Hallo, Roma!«
Auf uns kam ein Mann zu - am liebsten hätte ich ihn, warum auch immer, »Bürger«genannt -, der relativ groß und irgendwie kindlich pummelig war: Alles an ihm war rund, weich und leicht eingeschnürt. Der Mund war klein, die Lippen wie ein Hühnerhintern, die Augen waren ebenfalls winzig und wirkten selbst hinter der Brille ausdruckslos und gelangweilt.
»Hallo, Alexander«, begrüßte der Bürger Lass ausgesprochen zeremoniell und streckte ihm eine schlaffe Hand entgegen. Dann richtete er den Blick auf mich.
»Das ist Anton, ein Freund von mir. Können wir ihn mitnehmen?«, sagte Lass.
»Warum nicht?«, meinte Roma melancholisch. »Die Räder sind in Ordnung, die Straße ebenfalls.«
Daraufhin wandte er sich um und steuerte auf einen neuen VW Bora zu.
Erst stieg er ins Auto ein, dann wir. Rücksichtslos wählte ich den Beifahrersitz. Lass schnaubte, nahm aber gehorsam hinten Platz. Roman ließ den Motor an. »Wohin müssen Sie, Anton?«
Er redete sogar rund und weich, als spreche er nicht, sondern schreibe die Wörter in die Luft. »Zum Flughafen, und zwar schnell«, sagte ich finster.
»Wohin?«, fragte Roman ehrlich erstaunt. Dann sah er Lass an. »Sollen wir nicht lieber ein Taxi für deinen Freund suchen?«
Bedripst sah Lass mich an. Dann richtete er seinen Blick - genauso bedripst - auf Roman.
»Gut«, sagte ich. »Ich bekehre dich zum Licht. Verleugne das Dunkel, verteidige das Licht. Ich verleihe dir den Blick, um das Gute vom Bösen zu unterscheiden. Ich verleihe dir den Glauben, dem Licht zu folgen. Ich verleihe dir die Kühnheit, gegen das Dunkel zu kämpfen.«Lass kicherte. Und verstummte gleich darauf.
Natürlich sind hier nicht die Worte entscheidend. Worte können nichts ändern, selbst wenn jedes Einzelne so ausgesprochen würde, als sei es in Großbuchstaben geschrieben. Das ist wie bei den Zaubersprüchen der Hexen. Es ist bloß eine Formel, die das in meinem Gedächtnis abgelegte Modul aktiviert. Ich hätte mir einen Menschen auch selbst gefügig machen können, aber so… so war es irgendwie richtiger. Denn so kam ein vor langer Zeit abgesegneter Mechanismus zum Tragen.
Roman nahm eine würdevolle Haltung an, sogar die Rundlichkeit seiner Wangen schien zu verschwinden. Eben noch saß neben mir ein dicker und etwas verwöhnter Junge, jetzt ein Mann! Ein Kämpfer!
»Das Licht sei mit dir!«, beendete ich die Formel. »Zum Flughafen!«, rief Roman begeistert aus. Der Motor heulte auf, und wir schossen davon, indem wir aus dem deutschen Wagen alles rausholten, was in ihm steckte. Ich hätte schwören können, dass dieser sportive Kasten noch nie gezeigt hatte, wozu er in der Lage war!
Ich schloss die Augen und sah durchs Zwielicht in das von bunten Fäden durchzogene Dunkel. In dieses verknäulte Bündel von Lichtröhren, in grüne, gelbe, rote. Ich kann die Wahrscheinlichkeitslinien nicht sehr gut ausmachen, doch jetzt fiel es mir überraschend leicht. Ich spürte, dass ich in Form war wie nie zuvor.
Was bedeutete, dass bereits fremde Kraft in mich hineinströmte. Die Kraft von Geser und Sebulon, von Edgar und den Inquisitoren. Möglicherweise erstarrten ja gerade in ganz Moskau Andere, Lichte wie Dunkle, alle, von denen Geser und Sebulon etwas nehmen durften.
Nur einmal hatte ich bislang etwas Vergleichbares gespürt. Und zwar damals, als ich mir von den Menschen Kraft geholt hatte.
»An der dritten Kreuzung nach links, sonst kommen wir in einen Stau«, sagte ich. »Dann biegen wir nach rechts ab, in einen Hof rein, wir fahren durch das Tor… dort ist eine Gasse…«
Ich war noch nie in Saratow gewesen. Aber das spielte jetzt keine Rolle mehr.
»Zu Befehl!«, salutierte Roman munter. »Gib Gas! »
»Wird gemacht!«
Ich sah Lass an. Der hatte ein Päckchen Papirossy herausgeholt und sich eine angesteckt. Das Auto raste durch die verlassenen Straßen. Roman saß hinterm Steuer mit dem Eifer eines Straßenbahnfahrers, der die Chance bekommen hatte, Schumacher bei einem Formel-1-Rennen zu besiegen.
Lass seufzte. »Und was wird jetzt mit mir?«, fragte er. »Holst du eine Taschenlampe heraus und sagst»Das war eine Sumpfgasexplosion«?«
»Du siehst doch, dass eine Taschenlampe dafür gar nicht nötig ist«, erwiderte ich.
»Aber ich werde das doch überleben?«, ließ Lass nicht locker.
»Das wirst du«, beruhigte ich ihn. »Aber du wirst dich an nichts erinnern. Tut mir leid, aber das ist eben die übliche Prozedur.«
»Alles klar«, sagte Lass traurig. »Mist… Was soll das bloß alles… Aber wo ich jetzt schon mit drinhänge, könntest du mir wenigstens sagen…«
Das Auto raste ohne Rücksicht auf Verluste durch die Gasse und hüpfte über Schlaglöcher hinweg. Lass machte die Papirossa aus. »Wer bist du?«, fragte er. »Ein Anderer. »
»Was für ein Anderer? »
»Ein Magier. Aber keine Angst, ich bin ein Lichter Magier.«