»Du bist erwachsen geworden, Harry Potter…«, bemerkte Lass. »Was man nicht alles mitmacht. Oder bin ich vielleicht verrückt geworden?«
»Da besteht leider keine Hoffnung…«, sagte ich und stemmte die Hand gegen die Decke. Roman mühte sich gewaltig, jagte über Blumenbeete und schnitt Kurven. »Pass auf, Roman! Wir müssen schnell und sicher ankommen!«
»Dann sag mir auch noch eins«, fing Lass wieder an. »Diese Jagd… autsch… hängt die mit dieser anormalen Riesenfledermaus zusammen, die wir gestern Nacht gesehen haben?«
»Du wirst darüber lachen - aber das tut sie!«, bestätigte ich. Die Kraft brodelte in mir, machte mich trunken wie Champagner. Ich wollte albern sein, meinen Spaß haben. »Hast du Angst vor Vampiren?«
Lass holte eine Flasche Whisky aus seiner Tasche, schraubte sie mit einer heftigen Bewegung auf und setzte sie an den Mund. »Kein bisschen!«, behauptete er munter.
Sechs
Auf halber Strecke hängte sich ein Polizeiwagen an uns an. Ich wirkte für den Bora einen Zauber, der die Aufmerksamkeit der Menschen ablenkt, und sofort entfernten die Polizisten sich. Normalerweise schützen Andere ihre Autos mit diesem Zauber gegen Diebstahl - jetzt freute ich mich, eine neue Anwendung für ihn gefunden zu haben. Allerdings wäre kurz darauf beinah ein LKW in uns reingefahren, worauf ich den Zauber umgehend wieder aufhob.
»In fünfzehn bis zwanzig Minuten sind wir am Flughafen«, erstattete Roma Bericht, der wild mit dem Lenkrad hantierte. »Welche Instruktionen haben Sie dann, Chef?«
Aus den Augenwinkeln heraus bemerkte ich, wie Lass den Kopf schüttelte und einen weiteren Schluck trank. Wir waren bereits aus der Stadt raus und rasten über die Straße zum Flughafen dahin. Eine ziemlich gute Straße - für die Verhältnisse in Mittelrussland.
»Schalte das Radio an«, bat ich. »Sonst macht die Fahrt keinen Spaß.«
Roma schaltete das Radio ein. Wir erwischten gerade noch die letzten Nachrichten. »… zur Freude von Millionen von Lesern hat das Warten nach drei Jahren nun ein Ende«, verkündete die Sprecherin. »Zum Abschluss noch eine Mitteilung vom Kosmodrom Baikonur, wo in Kooperation von Russen und Amerikanern eine Rakete ins All geschickt werden soll. Der Start ist für 18.32 Uhr Moskauer Zeit geplant. Und jetzt setzen wir unser Musikprogramm fort…«
»Willst du auch einen Whisky?«, fragte Lass.
»Nein, ich muss noch arbeiten.«
»Reiß dich zusammen, Alexander, das ist nicht die Zeit zum Trinken!«, rief Roman munter. »Wir haben noch Arbeit!«
Dieser gutmütige Mann, der normalerweise wohl keiner Fliege etwas zuleide tun konnte, hielt sich jetzt für James Bond. Oder seinen Assistenten.
Irgendwie haben wir alle in unserer Kindheit nicht genug gespielt.
»Du wirst das Auto bewachen«, sagte ich ihm. »Das ist eine sehr verantwortungsvolle Aufgabe. Wir zählen auf dich. »
»Ich diene dem Licht!«, schrie Roman.
»Niemals hätte ich geglaubt…«, stöhnte Lass auf der Rückbank. »Soll ich auch auf das Auto aufpassen?«
»Ja«, meinte ich. »Nur… ich habe eine große Bitte: Versuch nicht wegzurennen.«
Von hinten war abermals ein Gluckern zu hören. Ob ich auch Lass dem Licht empfehlen sollte? Das wäre humaner… Warum sollte ich den Menschen unnötig quälen?
Zeit zum Nachdenken blieb mir jedoch nicht. Das Auto raste auf den Platz vor dem Flughafengebäude zu und hielt mit quietschenden Bremsen vorm Eingang an. Niemand achtete besonders auf uns: Jemand, der zu spät zu seinem Flug kam, nichts Außergewöhnliches. Ich holte Arinas Brief heraus. Sah auf den»Kompass«.
Die Nadel bewegte sich leicht hin und her, gab aber noch keine Richtung an.
Ob Kostja meine Ankunft spürte? Zumindest Geser war überzeugt davon. Was würde nun auf mich zukommen?
Seltsamerweise empfand ich bis jetzt keine Angst. Innerlich war ich nicht bereit, Kostja als Feind zu sehen - noch dazu als einen Feind, der fähig ist zu morden. Ich bin ein Magier zweiten Grades, das ist nicht schlecht. Hinter mir stand die gesamte Kraft der Nachtwache und nun auch - was noch nie da gewesen war - die der Tagwache. Was sollte mir ein einziger Vampir da schon anhaben? Selbst wenn er ein Hoher war.
Doch dann fiel mir das verzerrte Gesicht Viteszlavs wieder ein. Kostja hatte ihn ermordet. Ihn überwältigt.
»Lass«, sagte ich. »Ich hätte eine kleine Bitte… Komm hinter mir her. In gewissem Abstand. Wenn was passiert… Wenn du etwas bemerkst, sagst du es mir.«
Lass nahm den letzten Schluck Whisky und warf die leere Flasche auf die Rückbank. »Warum sollte ich nicht mitkommen?«, sagte er vernünftig. »Vorwärts, bleichgesichtiger Blade.«
Ihm war jetzt anscheinend alles schnuppe. Er hatte sich einen angetrunken - was auch eine gute Methode ist, um sich gegen einen Vampir zu schützen. Das Blut eines angetrunkenen Menschen bekommt ihm nicht, das eines stark betrunkenen kann ihn sogar umbringen. Ob sich Vampire deswegen immer lieber in Europa rumgetrieben haben als in Russland?
Aber ein Vampir ist keinesfalls gezwungen, das Blut eines getöteten Menschen zu trinken. Futter ist Futter, und Dienst ist Dienst. »Komm mir nicht zu nah«, wiederholte ich. »Halte Abstand!«
»Passen Sie auf sich auf, Chef!«, bat Roman. »Viel Erfolg. Sie sind unsere Hoffnung!«
Ich sah ihn an und erinnerte mich an die Abschiedsworte Sebulons. Wie ähnlich wir uns doch sind.
Wie ähnlich wir uns doch alle sind. Menschen und Andere, Dunkle und Lichte.
»Leise, geduldig, ohne Aggression«, sagte ich vor mich her, während ich die vor dem Eingang zum Flughafengebäude rauchenden Männer anstarrte. Überwiegend intelligente Menschen mit Krawatte. Eine Putzfrau in einer orangefarbenen Jacke, die eine Prima qualmte, sah neben ihnen völlig wild aus. »Leise und friedlich…«
Ich steuerte auf das Gebäude zu. Die Raucher wichen mir aus, denn in mir steckte jetzt zu viel Kraft, sogar normale Menschen konnte das spüren.
Und sobald sie es spürten, brachten sie sich klugerweise in Sicherheit.
Als ich hineinging, sah ich mich um. Lass kam mit einem gutmütigen Lächeln hinter mir hergetrottet. Wo bist du, Kostja?
Wo bist du, Hoher Vampir, der nie einen Menschen um der Kraft willen umgebracht hat?
Wo bist du, der du davon träumst, wie in einem billigen Hollywoodstreifen der Herrscher über die Welt zu werden?
Dort, wo auch der kleine Vampir ist, der versucht hat, sein Schicksal zu überlisten… Ich werde dich töten.
Nicht»Ich muss töten«, nicht»Ich kann töten«, nicht»Ich will töten«. Genug mit den Präzisierungen. Ich habe das»Müssen«, habe Rotz und Tränen hinter mir, die intellektuelle Selbstzerfleischung und Selbstrechtfertigung. Ich habe das»Können«, habe die Komplexe und Qualen eines Magiers dritten Grades hinter mir, die Anspannung eines Anderen, der seine Grenze erreicht hatte. Ich habe das»Wollen«, habe die Emotionen und Leidenschaften hinter mir, den Zorn und das Mitleid. Jetzt tu ich nur, was getan werden muss.
Falsche Ideale und Pseudoziele, fiebrige Losungen und doppeldeutige Postulate interessierten mich nicht mehr. Ich glaube nicht mehr an das Licht und nicht mehr an das Dunkel. Das Licht, das ist nur ein Photonenstrom. Das Dunkel nichts weiter als die Abwesenheit von Licht. Die Menschen sind unsere kleinen Brüder. Die Anderen sind das Salz der Erde. Wo bist du, Kostja Sauschkin?
Wo auch immer du hingerannt bist - zu den alten Artefakten des Ostens, zu einer milliardenstarken Armee aus chinesischen Magiern - ich werde deinen Sieg nicht zulassen. Wo bist du?
In der Mitte der Halle - der nicht allzu großen Halle eines Provinzflughafens - blieb ich stehen. Ich hatte den Eindruck, ihn zu spüren…
Ein verschwitzter Mann mit einem Koffer stolperte in mich hinein, entschuldigte sich und ging weiter. Ich erhaschte einen kurzen Blick auf seine Aura: ein nicht initiierter Anderer, ein Lichter, der Angst vorm Fliegen hatte, der aber gerade glücklich gelandet war und sich entspannte. Ein zufriedener Mann - der eben deshalb auffiel. Im Moment interessierte mich das nicht. Kostja?