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So sie denn überhaupt in Riga ankommen würde.

In diesem Moment stand Rebeccas Entschluss fest. Daran konnte selbst ihre Mutter nichts ändern.

Sie riss sich los und blieb stehen. Das Gedränge auf dem Bahnsteig nahm zu. Es mussten Hunderte sein, wenn nicht mehr. Alles bekannte Gesichter. Leute aus der Nachbarschaft, aus demselben Viertel. Und immer wieder diese Kommandorufe. Scharf, durchdringend, gnadenlos. Rebecca hielt es nicht mehr aus.

Sie wollte leben. Einfach nur leben.

Was folgte, geschah mit rasanter Geschwindigkeit. Ohne dass Rebecca groß zum Nachdenken gekommen wäre. Für sie, die sie dem Tod zu entrinnen versuchte, bewegte sich die Welt jedoch wie in Zeitlupe voran.

Rebecca stellte ihren Koffer ab und sah sich um. SS-Männer, Polizei und Bahnbeamte in rauen Mengen. Trotzdem. Sie musste es riskieren. Etwas anderes blieb ihr nicht übrig.

Während sie sich die Hände in der Manteltasche wärmte, stieß sie auf etwas Kaltes, Metallisches. Das EK I ihres Vaters. Mit das Einzige, was sie in der Hektik hatte mitnehmen können.

Als sei dies ein Zeichen für sie, wanderte ihr Blick hinüber zu ihrer Mutter, die soeben in einen Güterwaggon stieg und den Blick über die Köpfe der wartenden Menge schweifen ließ.

Ihre Blicke trafen sich. Und ihre Mutter nickte ihr zu. Als wisse sie genau, was in ihrem Kopf vor sich ging.

Rebecca erwiderte ihren Blick und hob die Hand zum Gruß. Zeit, Abschied zu nehmen. Für immer. Der Schmerz war wie ein Keulenschlag für sie, ging durch Mark und Bein. Aber weinen konnte sie trotzdem nicht. Sie würde es nachholen. Später einmal, wenn sie der Hölle entronnen war.

Nur wie, das war die Frage.

Rebecca wandte sich ab und bewegte sich so unauffällig wie möglich auf die Bahnsteigkante zu. Das fiel zunächst nicht weiter auf, weil es an Gleis17 von Menschen nur so wimmelte. Die Lokomotive stieß einen schrillen Pfiff aus. Kurz darauf stieg eine schmutziggraue Dampfwolke in die Luft und hüllte den Bahnsteig ein.

Das war ihre Chance. Jetzt oder nie. Jetzt oder dem sicheren Tod entgegengehen.

Sie wollte leben. Einfach nur leben.

Deshalb zögerte Rebecca keinen Augenblick. Sie sprang auf das gegenüberliegende Gleis, kletterte an der anderen Seite wieder hoch und begann zu rennen. Rannte, was das Zeug hielt.

Kurz darauf ein Schrei. Und Hunderte entgeisterte, zwischen Furcht und Hoffnung schwankende Blicke. So intensiv, dass sie sich ihr wie Nadelstiche in den Rücken bohrten.

Da ließ der Herr Schwefel und Feuer regnen vom Himmel herab auf Sodom und Gomorrha und vernichtete die Städte und die ganze Gegend und alle Einwohner der Städte und alles, was auf dem Lande gewachsen war. Und Lots Weib sah hinter sich und ward zur Salzsäule. Rebecca geriet ins Straucheln, rappelte sich auf und rannte weiter. Das nächste Gleis. Und kurz darauf wieder das nächste. Was hinter ihr vor sich ging, konnte sie nicht sehen. Wollte es auch nicht. Aber dann geschah etwas Seltsames. Plötzlich war sie nicht mehr sie selbst, sondern steckte im Körper ihrer Mutter. Sie sah sich über die Gleise rennen, sah die Blicke der Umstehenden, den SS-Mann, der sein MG 42 in ihre Richtung schwenkte. 1.500 Schuss pro Minute. Er ließ sich Zeit, seiner Sache absolut sicher. Von der herannahenden S-Bahn nahm er kaum Notiz.

Als er abdrücken wollte, war es jedoch zu spät. Der Zug ratterte vorbei und nahm ihm die Sicht. Der SS-Mann fluchte. Der Zug schien überhaupt kein Ende zu nehmen. Ein rot-gelber Waggon nach dem anderen. Und dann, als sein Blickfeld endlich wieder frei war, von der Geflüchteten keine Spur.

Es war zu spät. Rebecca war ihm entwischt. Daran konnten selbst die Hunde nichts ändern, die von der Leine gelassen wurden. Vor dem Stacheldrahtzaun, unter dem sich ihr vermeintliches Opfer soeben hindurchgezwängt hatte, war Endstation für sie.

Rebecca nahm das wütende Gekläffe kaum wahr. Eine Atempause, mehr nicht, fuhr es ihr durch den Sinn. Nur weiter, immer weiter. Durch die Unterführung, den Feldweg entlang und ins nächstbeste Gebüsch.

In dem Maße, wie sich das Gestrüpp ringsum verdichtete, wuchs Rebeccas Zuversicht. Sie hatte es tatsächlich geschafft, ihren Bewachern zu entkommen. Jetzt nur nicht schlappmachen, hämmerte sie sich ein. Und hastete unverdrossen weiter. Weder Dornen noch Hecken noch irgendwelche anderen Hindernisse konnten ihr etwas anhaben. Wie lange sie durch das Unterholz rannte, wusste sie schon bald nicht mehr.

Erst als die Dunkelheit hereinbrach, blieb Rebecca schwer atmend stehen. Sie hatte keine Ahnung, wo genau sie sich befand. Aber das war auch nicht wichtig. Wichtig war allein, dass sie am Leben war.

Dem Tode entronnen. Fürs Erste jedenfalls.

Keuchend vor Anstrengung ließ sich die junge Frau mit dem südländischen Teint und den ausdrucksstarken dunklen Augen auf einen Baumstumpf nieder. Die Temperatur lag weit unter null, und der Himmel war vollkommen klar. Myriaden von Sternen funkelten auf sie herab, und als sich ihr Blick wieder der Erde zuwandte, brach Rebecca Kahn in hemmungsloses Schluchzen aus.

Dann riss sie den gelben Stern von ihrem Mantel ab und schleuderte ihn wütend ins Gebüsch.

Alles, was sie wollte, war leben. Einfach nur in Frieden leben.

2

Villa Marlier, Am Großen Wannsee 56–58           

20.01. | 14.00h

»Das Protokoll, Obergruppenführer!«

Der Todesgott des Dritten Reiches lächelte, aber die blauen Wolfsaugen blickten kalt und starr.

»Danke, Sie können gehen.« Als die spinnenbeinförmigen Finger die Akte mit der Aufschrift ›Geheime Reichssache‹ umschlossen, verzog der knapp 38-jährige Hüne in der SS-Uniform keine Miene. Er war 1,89 m groß, blond und durchtrainiert, ein Mann nach Hitlers Geschmack. Und zum Fürchten. Selbst Himmler, Reichsführer-SS, traute ihm nicht über den Weg. Er kannte kein Pardon, und das Wort ›Skrupel‹ existierte für ihn nicht.

Die Akte war dünn, nur wenige Seiten lang. Aber sie hatte es in sich. Reinhard Heydrich, Leiter des Reichssicherheitshauptamtes und Hitlers Mann in Prag, nahm sich Zeit damit. An der gelösten Stimmung im Speisezimmer der Nobelvilla änderte dies jedoch nichts. Die anwesenden Spitzenbeamten, SS-Leute und Parteibonzen amüsierten sich glänzend. Kaviar von der Krim, französischer Champagner und Lachs aus Norwegen. Alles vom Feinsten. Heydrich ließ sich eben nicht lumpen. Mit jeder Minute stieg der Alkoholkonsum, und das Speisezimmer, das einen ungestörten Blick auf die Winteridylle rund um den Wannsee bot, war in dichten Zigarrenrauch gehüllt.

»Zufrieden?« Wenn es jemand wagen konnte, Heydrich bei seiner Lektüre zu unterbrechen, dann der 35-jährige SD-Mann, der ihm neugierig über die Schulter sah.

Aber Heydrich war nicht in Stimmung, und das bekam Adolf Eichmann umgehend zu spüren.

»Zufrieden? Was soll das heißen?«, blaffte die Fistelstimme seines Herrn, worauf der servile Judenreferent im RSHA instinktiv Haltung annahm. »Apropos Zufriedenheit–wie geht es mit den Deportationen voran?«

»Bestens!«, antwortete Eichmann, schenkte sich einen Rémy Martin nach und stellte die Flasche auf dem Kaminsims ab.

»So gut, dass eine der zu Deportierenden seit gestern flüchtig ist?«

Eichmann fiel vor Schreck fast das Cognacglas aus der Hand. »Die Fahndung läuft bereits auf vollen Touren!«, versuchte er erst gar nicht, sich herauszureden.

»Das will ich hoffen! Sonst noch irgendwelche Hiobsbotschaften?«

Eichmann zog ein Taschentuch aus der Uniformjacke und betupfte sich die Stirn. »Nein, Obergruppenführer!«, schnarrte er und schlug instinktiv die Hacken zusammen. »Alles läuft nach Plan!«

»Das will ich hoffen, Eichmann. Um Ihretwillen