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Die Soldaten, die aus dem Kessel in Stalingrad geflohen sind, sitzen auf der überdachten Ladefläche eines LKWs. Draußen tobt ein Schneesturm.
Der Schauspieler mit den abstehenden Ohren (erregt): „Entweder wir machen das jetzt so, oder ich steige aus und gehe von hier nach Deutschland — zu Fuß!“
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10. Oktober
Großer Arber. Mit Uli. Schon Schnee. Schön.
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Wallner geht durch das dunkle Schlafzimmer. Er muß aufstoßen und kann die Hühnchenstücke mit der scharfen chinesischen Sauce riechen, die er zum Abendessen gegessen hatte. Obwohl er das Bett, die Kante, jetzt nicht sehen kann, weiß er, wo sie sich befinden muß und weicht ihr auf dem Weg zum Fenster aus. Wallner läßt den Rolladen herunter.
Am Wochenende steht Ana hier manchmal, winkt ihn zu sich und deutet, flüsternd, als ob die Tiere sie hören könnten, auf Hasen oder Rehe auf den Feldern am Fuß des Galgenbergs, der, eher Hügel als Berg, mit seinen sanft ansteigenden Wiesen eigentlich ganz friedlich aussieht. Abends ist es im Haus fast vollkommen still. Nur von der Ostmarkstraße, der einzigen Verbindung zu den Autobahnen, kommt hin und wieder ein dumpfes Brummen. Nach einer Krise am Anfang, während der sie Wallner vorgeworfen hatte, ihre Karriere ruiniert zu haben — was mache sie, eine fast zu Ende studierte Veterinärmedizinerin und fertig ausgebildete Kindergärtnerin bitte als Buchhalterin in einer Firma für Landmaschinen? — , während der sie öfter mit Costin im Gepäck für Tage einfach abgehauen war, zu ihren Eltern nach München, während der sie geklagt hatte, hier außer Astrid Wiget keine Freundinnen zu haben, und dabei in einer Mischung aus Gebell und Muhen den Oberpfälzer Dialekt nachgemacht hatte, hat Ana sich eingelebt. Früher begann Ana zu weinen, wenn sie, aus dem Urlaub kommend, von der Autobahn die Ausfahrt Richtung Cham nahmen. Jetzt hört sie Wallner zu, wenn er von den Sachen erzählt, die er am nächsten Tag in der Firma erledigen muß, stellt sachbezogene Fragen, grüßt beim Aussteigen die Nachbarn, die vielleicht gerade die Einfahrt kehren, und trägt die Koffer ins Haus. Ana hat jetzt zwar kein positives, aber ein neutrales Verhältnis zu Cham.
Er hat vor dem Spiegel im Badezimmer Wasser in seine hohle Hand laufen lassen und seine Achseln, seinen Brustkörper und sein Glied besprengt. Während er dann Zähne putzt, ist Ana ins Badezimmer getreten. Sie ist nackt und trägt ein Stirnband, damit ihr die Haare beim Waschen nicht ins Gesicht fallen. Vor etwa fünf Monaten war Ana ebenfalls nackt ins Badezimmer gekommen, und Wallner hatte nach einer Weile gesagt, daß sie ihrer Mutter Elena, früher bildhübsch, jetzt dick, immer ähnlicher werde. Bis vor etwa einem Monat hatte Ana deshalb, wenn sie abends ins Badezimmer kam, bereits ihr Nachthemd an. Anas nackter Körper heißt, daß sie entweder vergessen hat, was Wallner ihr damals gesagt hat, oder daß sie Wallner verziehen hat.
Wallner hat sich auf das Bett gelegt, den Fernseher eingeschaltet und die Wildacker-DVD, den Film über den Dreißigjährigen Krieg, zu der Stelle vorlaufen lassen, bei der er noch sicher weiß, daß er sie vor zwei Tagen gesehen hatte und noch nicht eingeschlafen war. Während Wildacker in einer Bauernstube geboren wird, die Plünderung des elterlichen Bauernhofs und die Vergewaltigung seiner Mutter miterlebt, Heere aufeinander zustürzen und tote Soldaten verstreut auf nebligen Wiesen liegen, ist Ana aus dem Bad ins Schlafzimmer gekommen und hat das Licht ausgeschaltet. Sie hat „Nacht, Schatz“ gemurmelt und sich dann auf die Seite gedreht. Schon nach wenigen Minuten, als Wildacker zusammen mit anderen Soldaten in Wallensteins Lager Nachtwache hält, hat Wallner Anas gleichmäßigen Atem gehört und aus der Richtung ihres Gesichts die Minzzahnpasta gerochen.
Wallner hat Ana, seit er sie kennt, darum beneidet, daß sie nur die Augen zu schließen braucht und sie, egal wo, egal in welcher Position, von einem Moment zum anderen fähig ist einzuschlafen. Er muß, um einschlafen zu können, im Bett noch etwas tun, lesen oder fernsehen zum Beispiel.
Er spürt jetzt, daß seine Lider schwerer werden, und achtet noch darauf, was gerade im Film passiert, damit er morgen weiß, zu welcher Stelle er vorspulen muß, dann sind ihm die Augen zugefallen, während er noch die Stimmen und Geräusche vom Film, der weiterläuft, bis zum Ende, jede Nacht, im Ohr hat.
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8. Dezember
Nürnberg. Hugendubel.
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19. Januar
Messe Frankfurt.
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Wallner wählt um 17:24 Uhr von seinem Büro aus die Durchwahl der Buchhaltung, um Ana Bescheid zu sagen, daß er so in 20 Minuten fertig sein werde und daß sie dann zusammen nach Hause fahren können, beim zweiten Klingeln ist ihm eingefallen, daß Ana ja gar nicht in der Firma ist, weil sie heute morgen mit Costin mit der Bahn nach Regensburg und von dort mit ihrer Mutter in deren gebrauchten Audi-Kombi zum einwöchigen Verwandtenbesuch nach Bukarest aufgebrochen ist.
Eine Viertelstunde später hat Wallner Wiget abgeholt. Wie ein paar Tage zuvor besprochen, nachdem Anas und Costins Reise feststand, ißt Wallner heute abend und morgen nicht zu Hause in Siechen, sondern bei den Wigets in Chammünster und schläft auch bei ihnen. Weil Wiget noch etwas aus der Apotheke am Marktplatz braucht, ist Wallner schon einmal vorausgefahren, die Pappelallee entlang, gibt am Tor der Wiget-Villa die Zahlenkombination ein, die Torflügel öffnen sich, Wallner parkt den Volvo in der Garage.
Astrid und er begrüßen sich im Windfang, sie trägt so einen kurzärmeligen lila Angora-Pulli wie Ana auch einen besitzt, Ana hat ihn viel zu selten an. Astrid sind die blonden Lokken in die Stirn gefallen, das sieht sexy aus.
Astrid fragt: „Wie war dein Tag, Schatz?“, gleich danach lacht sie kurz auf.
Wallner stellt seine Reisetasche im Windfang ab, während er die Kellertreppe heruntersteigt, um am Kleiderständer im Flur sein Sakko aufzuhängen. Als er sich gegenüber von Astrid auf das Sofa im Wohnzimmer setzt, erzählt er ihr von dem Telefongespräch mit Brandenburg heute, bei dem er positive Signale erhalten habe. Astrid erzählt ihm, daß sie einen harten Tag gehabt habe, auf der Station sei heute der Teufel los gewesen. Wallner erkundigt sich, ob es Thea, Astrids Sorgenkind auf der Station, heute besser gegangen sei oder ob sie noch immer so schlecht auf die Chemo reagiere.
Maximilian — Maximilian nach Ulrich Wigets Vater Maximilian Wiget — und Patrick — Patrick wie Patrick Sujet, der Sänger — sind ins Wohnzimmer gekommen. Beide tragen Turnschuhe, kurze Hosen und T-Shirts, Patrick dribbelt mit einem Basketball auf der Stelle.
Wallner sagt: „Hey“ und versucht, die beiden in die Seite zu zwicken.
Maximilian sagt, daß sie eine Runde auf dem Platz gegenüber spielen werden, und fragt, ob Wallner mitwolle.
Wallner ist in den Keller gegangen und hat sich Wigets Turnschuhe, die in der Garderobe stehen, angezogen. Auf dem Sportplatz haben zuerst Wallner und Patrick ein Team gegen Maximilian gebildet. Immer wenn Patrick Wallner den Ball über seinen Bruder hinweg zuwirft, ruft er: „Stefan.“ Wallner macht zwei Schritte auf den Korb zu, Maximilian springt abwehrend in die Höhe, Wallner fälscht den Ball ab und ruft: „Patrick.“ Während dann Maximilian und Patrick gegen Wallner spielen und er immer seltener angegriffen oder abgewehrt hat, haben Maximilian und Patrick, vor Wallner hin und her dribbelnd, immer wieder herausfordernd gesagt: „Na komm“ oder „Komm schon“ oder „Nicht so schlapp, Opa.“