Ana fragt: „Bist du müde?“
Es entsteht eine Pause.
„Kann ich irgend etwas tun, damit du?“
Es entsteht eine Pause.
Ana geht ins Bad. Sie läßt die Tür offen. Wallner sieht, wie sie von der Rolle Klopapier abreißt und sich damit die Scheide abwischt.
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Jetzt kommt gleich Costin. Gerade nimmt ein Tobias Vogt, ein hochgewachsener schlaksiger Junge, auf der Bühne das Zeugnis aus den Händen des Rektors entgegen. Wallner sieht trotz seiner neuen blauen Kontaktlinsen das Geschehen auf der Bühne am anderen Ende der Aula nur verschwommen. Ana neben ihm filmt. Sie wird Tobias Vogt und den Rektor herangezoomt und auf dem kleinen ausgeklappten Bildschirm ihres Camcorders scharf gestellt haben, auf den sie bereits während der ganzen Abiturverleihungszeremonie schaut. Der Rektor hat durch das Mikrofon „Herr Costin Wallner, bitte“ gesagt.
Wallner reckt den Kopf, sein Herzschlag hat sich beschleunigt. Costin steht von seinem Platz auf, vorne, an den langen Tischen mit den Bierbänken, und steigt die Treppe an der Seite der Bühne hoch. Seine Gesten, die ruckartigen Bewegungen, die geröteten Wangen, Wallner glaubt, daß die Wangen gerötet sind, lassen darauf schließen, daß Costin nervös ist, vielleicht freudig erregt. Das Publikum klatscht noch immer.
Wallner würde, wäre er in diesem Moment an Costins Stelle, nervös und freudig erregt sein, weil er trotz der ständigen Anfeindungen durch die Mitschüler und Lehrer und nicht zuletzt trotz des Elternhauses, des ihn ständig kontrollierenden Vaters, also Wallners Vater, Günter Wallner, nicht Costins, Stefan Wallner, ein Abiturzeugnis mit einem Zweier-Schnitt geschafft hat. Costin hat vor einer Woche auf Wallners wiederholte Frage hin, während des Abendessens, vorgerechnet, daß er keinen Einser-, mit Sicherheit aber einen Zweier-Schnitt haben werde.
Ana hat jetzt vom Bildschirm des Camcorders weg auf die Bühne geschaut und sich auf die Zehenspitzen gestellt. Costin ist an den Bühnenrand vorgetreten und hat einige Tanzschritte gemacht. Wallner kann nicht erkennen, ob der Rektor lächelt oder verdutzt aussieht. Costin ist Wallner peinlich. Er schaut zu Ana, die mit offenem Mund, lautlos lachend, auf den Bildschirm schaut, die anderen Abiturienten haben angefangen zu jubeln und zu klatschen, die anderen Eltern an den Tischen vor Wallner und Ana fallen mit ein.
Nach dem Gruppenfoto der Abiturienten, die eine Eins vor dem Komma haben, hat der Rektor das Buffet für eröffnet erklärt, und Wallner hat sich durch die Gänge zwischen den Tischen, den Schlangen der Schüler und Erwachsenen, die jetzt nach hinten strömen, entgegen, nach vorne gezwängt. Er tippt Costin, der sich gerade mit dem Mädchen neben ihm unterhält, von hinten auf die Schulter. Costin dreht sich um, lächelt und sagt: „Ihr seid ja doch noch gekommen, ist die Mama auch da?“ Das Mädchen neben Costin, das sich ebenfalls umgedreht hat und Wallner lächelnd ansieht, hat langes, glattes blondes Haar, ihr Gesicht ist schmal. Das Mädchen neben dem Mädchen, das sich ebenfalls zu Wallner umgedreht hat, hat langes, glattes schwarzes Haar und etwas Babyspeck im Gesicht.
Wallner sagt: „Ja, die Mama ist auch da, herzlichen Glückwunsch übrigens“ und hat dem blonden Mädchen ins schmale Gesicht geschaut.
Wallner sieht das blonde Mädchen in einem Bett aus Rosenblüten, Rosenblüten auf der Scham und auf den Brüsten, Rosenblüten, die auf das Mädchen herabregnen, er könnte sich vorstellen, morgen in der Dusche hinter der Milchglasscheibe zu onanieren und dabei an Geschlechtsverkehr mit dem blonden Mädchen zu denken.
Wallner dreht sich um und winkt Ana her, die, sofern er das zwischen dem Gewusel der Menschen sehen kann, noch immer filmt und die Kamera auf ihn gerichtet hat. Auch Costin hat in Anas Richtung geschaut und gewinkt. Ana hat den Camcorder eingesteckt und sich auf den Weg nach vorne gemacht. Wallner hat „Ja“ gesagt und „Soll ich euch“, und er hat auf das blonde Mädchen geblickt und einen fragenden Gesichtsausdruck gemacht, „Das ist Sara und das ist Nicole“, sagt Costin und deutet auf das schwarzhaarige Mädchen, „Sara und Nicole“, fährt Wallner fort, „etwas vom Buffet mitbringen?“
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3. Oktober
Großer Arber. Mit Uli. Regen.
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12. Dezember
Geburtstag Ana (56)
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30. Juli
King Kong. Mit Costin. Lustig.
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14. Februar
Messe Frankfurt.
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1. Februar
Ist der Wunsch nach Flucht vorhanden?
Ja.
Was hindert dich daran? Erstelle eine Reihenfolge!
a) die Firma, b) Ana, c) Costin
Vorausgesetzt, a) bis c) sind nicht vorhanden, was wäre der Zielort deiner Flucht?
Das wäre projektgebunden. Ich hätte gern ein neues Projekt — ein Projekt außerhalb des Umfelds, das ich kenne und das mich kennt. Generell ließe sich die Frage daher vielleicht mit „Außerhalb Europas“ beantworten.
Paris?
Paris ist dadurch, daß ich es so gut kenne und schätze, selbstverständlich eine Option. Im Grunde genommen ist Paris aber zu nahe an Deutschland, der Firma, Ana et cetera. Ich hätte immer Angst, daß ich, durch was für einen Zufall auch immer, jemanden treffe, der mich erkennt.
Was wäre, wenn Brandenburg nicht klappt?
Es müßten mehrere Faktoren zusammenkommen, damit ich auch wirklich an eine „Flucht“, oder wie immer man das nennen mag, denke.
Was wären diese Faktoren?
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Er sitzt im Konferenzraum der Firma und sieht, wie zwei Polizeibeamte in sein Büro treten. Der eine, etwas größere, hat das Gesicht von Wachtmeister Willems, sein Kollege das von Wachtmeister Roche, den beiden Fahndern aus der Serie Streife 6, von der Wallner vor eineinhalb Wochen, es war Samstag abend, eine Folge gesehen hat. Obwohl die Polizeibeamten vor dem Schreibtisch im Büro stehengeblieben sind und sich auch sonst nicht bewegen, haben ihre dunkelbraunen Lederjacken geknarzt. Die Tür dämpft das Klingeln des Telefons, das aus dem Sekretariat kommt.
Der eine, etwas größere Polizeibeamte sagt: „Heute früh hat sich auf der Strecke Essen — Köln ein ICE-Unglück ereignet. Ihr Vater saß in dem ICE. Er wurde durch das Fenster geschleudert, ihm wurde die Schädeldecke zertrümmert. Anschließend überschlug er sich mehrmals auf der Wiese, auf der Löwenzahn blühte und Kühe weideten. Dabei wurde ihm das Genick gebrochen.“
Papa ist das Genick gebrochen worden.
Wallner sagt: „Es gibt auch noch diese Kinderdörfer in Nigeria. Die Mehrzahl der Kinder sind Waisen, häufig Kinder, die ihre Eltern in einem der Bürgerkriege verloren haben oder ausgesetzt wurden. Der andere Teil sind Kinder, deren Eltern über keinerlei finanzielle Mittel verfügen. In den Dörfern werden die Aufgaben von den Kindern selber übernommen. Es gibt Handwerker, es gibt Verwalter. Die meisten Lehrer der Schulen in den Kinderdörfern kommen aus westlichen Ländern. Wenn die Kinder ihren Abschluß gemacht haben, gehen sie entweder in praktische Berufe oder sie werden an Unis im In- und Ausland weitervermittelt.“